Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Der letzte Überlebende - Sam Pivnik

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im Auge.

      Das geschah durch Informanten, und an zwei von ihnen erinnere ich mich aus gutem Grund ganz besonders. Einer war ein Gastwirt namens Kornfeld. Er war um die dreißig, denke ich, und bevor der Zwischenfall in der Warteschlange meinen Vater dazu verurteilte, sich nur noch zwischen unserem Haus und der Rossner-Fabrik zu bewegen, besuchte Nathan gelegentlich am Samstagabend diese Gaststätte. Er trank allerdings immer nur Limonade. Kornfelds Schwager war etwas jünger als er und arbeitete als Schuster. Sein Name war Machtinger.

      Eines Abends kam ich von der Arbeit nach Hause und sah Machtinger vor mir, wie er die Modrzejowska hinunterging, gemeinsam mit einem deutschen Polizisten, einem üblen Kerl namens Mitschker, mit dem ich schon einmal aneinandergeraten war. Die beiden benahmen sich, würde man heute wohl sagen, verdächtig und achteten sehr darauf, dass sie nicht beobachtet wurden, wie sie sich durch eine Seitentür in das Haus des Pferdehändlers Piekowski schlichen. Piekowski war einer der reichsten Männer der Stadt. Er war vom Judenrat wegen der Goldsammlung angesprochen worden, hatte sich aber rundweg geweigert. Ein anderer Pferdehändler, Wechselmann, hatte so viel gegeben, wie er konnte.

      Mich interessierte natürlich, was Machtinger und Mitschker in der Erdgeschosswohnung von Piekowskis großem Haus machten. Piekowski selbst bewohnte mit seiner Familie den ersten und zweiten Stock; im Erdgeschoss wohnten die hübschen blonden Töchter in einer eigenen Wohnung. Ich wartete ein oder zwei Minuten – von den Eltern keine Spur. Dann duckte ich mich zwischen ein paar Büsche und schlich ums Haus, wo ich auf Zehenspitzen durch eine Lücke im Vorhang eines Fensters, das zum Garten hinausging, hineinspähen konnte.

      Ich war vierzehn, und was ich sah, war zwar nicht absolut neu für mich, aber erstaunt war ich doch. Auf dem Tisch standen ein paar Bierflaschen, die Lampen brannten. Die jüngere Tochter war etwa achtzehn, also nicht sehr viel älter als ich, aber doch schon in jeder Hinsicht eine Frau. Sie lag splitternackt in lasziver Pose auf dem Sofa. Die ältere rekelte sich auf dem Bett. Sie war ein paar Jahre älter und hatte eine üppigere Figur. Ich stand wie gebannt da. Natürlich hatte ich die Mädchen schon oft gesehen, aber nie ohne Kleider! Mitschker und Machtinger hatten es furchtbar eilig. Sie kämpften beide mit ihren Hemden, traten sich die Stiefel von den Füßen und zerrten an ihren Hosen.

      Ich vermute, dass mir die Zunge aus dem Hals heraushing, auch wenn das hier keine Peepshow war. Die Mädchen hatten keinen Spaß an dem, was hier passierte, so viel war mir klar. Sie machten einfach mit, ihre Gesichter waren wie versteinert. Vermutlich wurden sie erpresst, bezahlten mit ihren Körpern für ein leichteres Leben und dafür, dass die Behörden ein Auge zudrückten. Ich bekam Angst und lief weg.

      Was wäre wenn? Wenn kein Krieg gewesen wäre, wenn Polen nicht besetzt gewesen wäre, wenn ich nichts von dem Verrat gewusst hätte, den Mitschker und Machtinger begingen – vermutlich wäre ich zu Dudek und den anderen gerannt und hätte es genossen, endlich mal im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stehen. Wenn ich ihnen alles erzählt hätte, wären sie mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen um mich herumgestanden, und irgendwann hätten wir sehr viel gekichert. Aber diese Geschichte konnte ich nicht erzählen, die Folgen wären zu schrecklich gewesen. Ein SS-Mann, der mit einer Jüdin schlief, wurde standrechtlich erschossen. Und diese Schurken kannten ja keine Ehre.

      Mitschker bekam einige Zeit später kalte Füße – die Details kenne ich nicht – und ließ seine beiden Informanten fallen wie heiße Kartoffeln. Machtinger und Kornfeld waren unter den ersten, die deportiert wurden. Piekowski, seine Frau und seine Töchter folgten einige Zeit später.

      Ich begriff damals gar nicht wirklich, was passierte. Ich lebte in einer Welt, in der Polizisten Sex mit Mädchen hatten, die sie eigentlich beschützen sollten, und in der der Judenrat, unsere eigenen Leute, auf eine Chance wartete, sich Fleißkärtchen der Nazis zu verdienen und auf eine andere Art mit der SS ins Bett zu steigen.

      Es muss wohl im April 1941 gewesen sein, als die Flüchtlinge in unsere Stadt strömten. Andere, so berichtete man uns, zogen ins nahe Sosnowiec (Sosnowitz). Sie waren keine Flüchtlinge in dem Sinne wie die Obdachlosen, die im Herbst 1939 vor der Wehrmacht davongelaufen waren, aber auch ihre Häuser waren verloren. Sie kamen mit Karren und Wagen, Schlitten und Kinderwägelchen und hatten so viel von ihrer Habe dabei, wie sie tragen konnten. Die meisten kamen aus Oświęcim (Auschwitz), das gerade vierzig Kilometer von uns entfernt lag. Ich war nie dort gewesen, aber im Grunde genommen war es eine kleine Ausgabe von Będzin mit einer zur Hälfte jüdischen Bevölkerung. Das Foto, das damals jemand von den Neuankömmlingen aufnahm, bestätigt meine Erinnerung: Damals trugen wir bereits alle gelbe Armbinden mit einem schwarzen Davidstern. Die Leute waren aus ihren Häusern vertrieben worden, weil die Deutschen in der Artilleriekaserne nahe der Stadt ein neues Lager bauten und es keinen Platz mehr für sie gab. Wir wussten damals nicht, wie viele von ihnen bald wieder dorthin zurückgehen würden.

      Es muss etwa um diese Zeit gewesen sein und hatte vielleicht mit dem Zustrom von Menschen zu tun, dass auf der Anschlagtafel vor dem Büro des Judenrats zu lesen war, alle Juden müssten sich fotografieren lassen. Zu allen Zeiten haben die Menschen Angst vor dieser Art der Registrierung und Klassifizierung gehabt. Die Menschen in den Kolonien des 19. Jahrhunderts fürchteten sich vor der Kamera, weil sie glaubten, sie würde ihnen die Seele rauben. Auch ausführliche Listen, oft ein Vorläufer steigender Steuern und Abgaben, wurden mit Schrecken betrachtet. Als Wilhelm der Eroberer im Jahr 1086 abfragte, wie viele Pflüge und wie viele Stück Vieh die Menschen besaßen, hielten sie das für einen Vorläufer des Jüngsten Gerichts – daher der Name „Domesday Book“. Die Optimisten unter uns dachten, wir würden vielleicht nach Palästina deportiert und Hendla würde doch noch ihren Willen bekommen. Die Pessimisten sagten jedes denkbare Höllenloch voraus, vielleicht irgendwo in Fernost. Heute weiß ich, dass es einen Plan gab, alle Juden nach Madagaskar zu deportieren – das war eine der „Endlösungen“, die die Nazis für uns erdacht hatten.

      Der Plan war im Jahr zuvor entwickelt worden, und tatsächlich hatte das Oberkommando der Nazis auch über Palästina nachgedacht, die Idee dann aber wieder verworfen. Madagaskar gehörte zu Frankreich, aber Frankreich war ja inzwischen ebenfalls von der Wehrmacht überrannt worden, mit Ausnahme des südfranzösischen Vichy-Gebiets, dessen Verwaltung mit den Deutschen kollaborierte. Das Geld dafür, uns alle auf diese Insel vor der Küste Afrikas zu schicken, sollte aus konfisziertem jüdischem Besitz kommen. Aber selbst die 587.000 Quadratkilometer große Insel, weltweit die viertgrößte Insel überhaupt, war nicht groß genug für alle europäischen Juden, so wenig die Nazis auch an unser Wohlbefinden dachten. Außerdem spielten die Briten nicht mit, und Großbritannien herrschte nun einmal – das mussten selbst die Nazis zugeben – über die Weltmeere. Trotzdem stellten wir uns brav alle an und ließen uns fotografieren. Das Foto meiner Großmutter existiert noch, es ist eins von zwei Bildern, die ich von ihr besitze. Sie wurde zu dieser Zeit allmählich blind.

      Wir machten irgendwie weiter, so gut wir konnten, aber die Ankunft der Juden aus Oświęcim ließ die Vorräte noch knapper werden und der Schwarzmarkt blühte wie wild. Mein Vater, eigentlich ein gebrochener Mann, besaß immerhin die Energie, ab und zu Stoffreste aus Rossners Uniformfabrik zu schmuggeln. Wenn ihm das gelang, saß er zu Hause im Schneidersitz auf dem Boden, Nadel und Faden in der Hand, und nähte Kleider für Nicht-Juden, die ihn mit Mehl oder Wurst bezahlten.

      Gefährlich war unser Leben allemal. Männer und Frauen in der Fabrik verloren bei der ungeschützten Arbeit ihre Finger; für jüdische Arbeiter gab es keine Sicherheitsvorkehrungen. Aber eines Tages wurde es richtig schlimm. Zu unseren nächsten Nachbarn gehörten die Schwartzbergs, die drei Türen weiter wohnten. Im Frühjahr 1941 wurden Herr Schwartzberg und sein Sohn von der Nazi-Polizei verhaftet. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber in unserer Straße wurde tagelang darüber geredet. Ihr Verbrechen? Herr Schwartzberg hatte eine Kuh von einem nicht jüdischen Bauern gekauft, schwarzgeschlachtet und das Fleisch verkauft. Eine Riesendummheit, dachten wohl auch die Nazis. Offenbar hatte Schwartzberg genug Geld, um das Tier erst einmal zu kaufen. Und das, obwohl er doch seine gesamten Ersparnisse dem Judenrat hätte geben sollen. Außerdem unterlief er

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