Der letzte Überlebende. Sam Pivnik
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Ratsvorsitzender in Ostschlesien war Meniok Meryn, der als Vermittler zwischen dem deutschen Gauleiter und Molczacki fungierte, dem Vorsitzenden des Judenrats in Będzin. Einige Leute hielten Meryn für einen Glücksritter und Kollaborateur, andere glaubten, er würde die Verfolgungen durch die Nazis zumindest hemmen. Molczacki, so lauteten die Gerüchte, durchforstete die Papierkörbe seiner Angestellten, um etwas gegen sie in der Hand zu haben. Ich war noch ein Kind, wie konnte ich wissen, was davon stimmte?
Richtig schlimm wurde es dann im Februar 1940. In diesem Monat kämpften die Russen im frostigen Norden gegen die Finnen, mit Skiern und weißen Tarnanzügen. Natürlich wussten wir nichts davon. Będzin war einer der wenigen Orte in Polen, wo die Nazis noch kein echtes Ghetto eingerichtet hatten, uns ging es also vergleichsweise gut. Trotzdem herrschte eine Art Belagerungszustand in der Stadt. Niemand durfte ohne Erlaubnis der SS die Stadt verlassen oder betreten, und für uns galten noch strengere Bestimmungen. Ich ging zu Fuß zur Fabrik und wieder nach Hause. Von Zeit zu Zeit ging ich zusammen mit Nathan und meiner Großmutter zu den Abraumhalden am Stadtrand, um nach Kohlen zu suchen. Überall waren Polizisten und Wachleute, man hatte den Eindruck, sie suchten nur nach einem Vorwand, um auf uns zu schießen.
In diesem Februar befahlen die Nazis dem Judenrat, er solle mehr als 15 Kilogramm Gold und 60 Kilogramm Silber abliefern, für die die jüdische Gemeinde zu sorgen hätte. Angeblich als Buße für irgendein Verbrechen, das wir begangen hatten. Auf Nachfrage hätten sie zweifellos wieder behauptet, wir hätten Christus ermordet oder das Blut christlicher Kinder für irgendein Ritual benutzt. Aber das war, bevor sie gar keinen Grund mehr brauchten, um uns zu bestrafen. Die Ratsmitglieder liefen durch die Stadt, klopften an Türen und vernagelte Fenster, drangen in unsere Wohnungen ein – obwohl doch unsere Privatsphäre das Einzige war, was uns noch geblieben war. Ich weiß nicht, ob es ihnen gelang, die geforderte Menge aufzubringen und wie viel noch unter Bodendielen und auf Dachböden versteckt wurde. Schließlich würde irgendwann der Tag kommen, an dem die Deutschen wieder gingen.
Skiausrüstungen mussten abgegeben werden, wenn man welche hatte (die Pivniks hatten so etwas nicht), vermutlich für den Krieg gegen die Finnen. Unsere Radios waren schon größtenteils konfisziert; wer noch eins hatte, verlor es jetzt. Dann verboten sie uns das Betreten bestimmter Straßen und öffentlicher Plätze, sodass ein Ghetto ohne Namen entstand. Nathan wurde zum Opfer dieser Bestimmungen. Er wurde in einer Gegend aufgegriffen, die er nicht betreten durfte, weil er versucht hatte, dort illegal Brot zu besorgen. Und so landete er im städtischen Gefängnis. Ich erinnere mich nicht an die Formalitäten, ob er vor einem Gericht oder vor einem SS-Offizier erscheinen musste. Ich erinnere mich nur an die unerträgliche Anspannung zu Hause, als er weg war. Und an die Hilflosigkeit meines Vaters, der nichts dagegen tun konnte. Nathan blieb sechs Wochen im Gefängnis.
Und doch ging das Leben irgendwie weiter. In der Fabrik war es erträglich, tatsächlich freute ich mich, jeden Tag zur Arbeit gehen zu können. Und gelegentlich konnte ich auch noch ein bisschen Fußball spielen, selbst wenn die Zahl der Mitspieler dahinschwand. Außerdem hatte ich noch meine Tauben, die unbeeindruckt in Herrn Rojeckis Dachboden gurrten. Für sie, so dachte ich immer, gab es keinen Krieg, keine Ohrfeigen, keine engen Grenzen des Erlaubten und Unerlaubten. Hätte ich realistischer gedacht, dann wäre mir sicher eingefallen, dass es nicht mehr viel Futter für sie gab.
Nahrung war insgesamt unser Hauptproblem. Nathan und ich waren im Wachstum, Majer ebenfalls. Wir lebten zu zehnt in dem kleinen Haus Nummer 77, und nur vier von uns verdienten ein wenig Geld. Meine Großmutter war zu alt, meine Mutter hatte alle Händevoll mit den kleineren Kindern zu tun. Josek war ja erst drei Jahre alt. Es gab eine Art Schwarzmarkt, es gab Leute, die „jemanden kannten“, und gelegentlich sah man, wie in dunklen Ecken Geld und Lebensmittelpakete verstohlen den Besitzer wechselten. Einige polnische Freunde hatten wir auch noch.
Damals wussten wir nichts davon, aber die Befehle aus dem Reich, die in Berlin entwickelt wurden, würden Polen in den kommenden Monaten am härtesten treffen. Wenn ein Pole einem Juden half und ihm beispielsweise während der Aktionen – der Deportationen in die Lager – Obdach gewährte, dann wurde dieser Pole mitsamt seiner Familie zum Tode verurteilt. So weit war es 1940 noch nicht, aber die Christen gingen ein Risiko ein. Sie steckten uns Essen zu, wann immer sie konnten, und manchmal brachte das die älteren Mitglieder unserer Familie in unangenehme Situationen. Eines Tages kam ich mit einem Lebensmittelpaket unter der Jacke nach Hause. Es war ein Geschenk der Mutter meines Freundes Dudek und enthielt Würste aus Schweinefleisch. Für mich war das kein großes Problem, ich hatte in den Jahren vor dem Krieg schon oft bei Dudek Schweinefleisch gegessen. Aber für meinen Vater war so etwas undenkbar. Nach allem, was den Juden in Będzin bereits widerfahren war – der Brand der Synagoge, die Schließung der Schulen, die Erhängungen, Verbrennungen und Erschießungen, der Verrat des Judenrats –, musste es doch noch ein paar Prinzipien geben, und mein Vater konnte und wollte nicht von den Lehren abweichen, die zu seinem Leben gehörten. Seine erste Reaktion war, die Wurst wegzuwerfen. Ich erinnere mich nicht, dass meine Eltern darüber gestritten hätten, nicht einmal an eine Diskussion zwischen ihnen. Vielleicht sah mein Vater meiner Mutter nur in die Augen, und was er dort sah, genügte ihm. Sie war eine gute Jüdin, aber ihre Kinder hatten Hunger, und für eine Mutter hatte dieser Gedanke absolute Priorität. Am Ende verließ er das Haus, während wir die Wurst aßen, und so hielten wir es von da an, ohne darüber zu sprechen. Wir aßen in seiner Gegenwart kein Schweinefleisch, und wir sagten ihm auch nicht, wenn wir es hinter seinem Rücken verzehrten. Diesen Preis mussten wir zahlen, nachdem wir nun einmal in die Hände von Wahnsinnigen geraten waren.
Auf die eine oder andere Weise traf die Besatzung meinen Vater am härtesten. Er war ein stolzer Mann, hielt auf Tradition und war es gewohnt, respektiert zu werden. Jetzt war das alles verloren gegangen. Und es wurde noch schlimmer. Eines Tages kam er nach Hause, zitternd und blutverschmiert. Er war ausgegangen, um Brot zu kaufen, und ein paar Stunden unterwegs gewesen. Zunächst machten wir uns keine Sorgen, wir wussten ja, dass man überall Schlange stehen musste. Man wartete eben, so lange es nötig war. Diesmal jedoch brachte ihn ein Nachbar nach Hause. Er war in der Schlange denunziert worden; einer der gefürchteten Zeigefinger hatte sich auf ihn gerichtet, die von nun an mein Leben bestimmen sollten. Daraufhin hatten ihn mehrere Polizisten herausgezogen. Er war sehr erschüttert – die Verletzungen in seiner Seele müssen größer gewesen sein als das, was wir sehen konnten. Von diesem Tag an ging er nur noch in Rossners Fabrik; Hendla, Nathan und ich übernahmen das Schlangestehen. Und meine Mutter wurde zum Fels in der Brandung und hielt uns alle zusammen. Bei jedem Blick ins Gesicht meines Vaters konnte ich sehen, dass seine Kampfkraft – ja, seine Lebenskraft –, ihn verlassen hatte.
Die jüngere Generation war entschlossener zurückzuschlagen. Wir Jüngeren waren kräftiger und dümmer, würde ich sagen. So entstand in Będzin im Frühjahr 1940 eine Art Widerstandsgruppe aus Mitgliedern der Jugendorganisationen. Vor dem Einmarsch war ich für diese Organisationen noch zu jung gewesen, und jetzt konnte ich mich ihnen nicht anschließen, weil sie ja illegal waren. Poale Zion, Habonim Dror, Gordonia, Hashomer Hatzair, Hanoar Hatzioni, Hashomer Hadati – ich erinnere mich noch an die Namen, so wie viele junge Deutsche sich vielleicht an die antifaschistischen Edelweißpiraten erinnern. Hendla hatte viel mit Gordonia zu tun, obwohl ihre Träume, nach