Der letzte Überlebende. Sam Pivnik
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An diesem Nachmittag blieb ich im Haus, weil man sonst nirgendwo in Sicherheit war. Von Zeit zu Zeit hörten wir Schüsse in den Straßen der Stadt. Und dann, am Spätnachmittag, kam der Brandgeruch. Er unterschied sich von dem der brennenden Fabriken in der Woche zuvor. Ich wollte herausfinden, was da los war, aber meine Eltern ließen mich natürlich nicht gehen. Die Tage, an denen ich in vollkommener Sicherheit einen Ball durch die Straßen kicken konnte, waren vorbei. Meine Mutter hielt ihre Kinder bei sich. Als es dämmerte, schlich ich mich trotzdem aus der Wohnung und kletterte auf das Dach eines Schuppens, der sich an eine hohe Mauer lehnte. Der Himmel glühte rot, der schwarze Rauch stieg in den lilafarbenen Abend. Die große Synagoge brannte, das Symbol meines Volkes stand in Flammen. Die Balken krachten schon und brachen in sich zusammen. Und das am Sabbat, dem Tag des Herrn.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort blieb, auf Zehenspitzen stehend und wie gebannt von dem Anblick. Keine Feuerwehr eilte herbei, das Feuer breitete sich auf die Häuser rund um die Synagoge aus, lauter jüdische Geschäfte, jüdische Wohnhäuser. Erst als Hendla nach mir rief, riss ich mich los. Die Pivniks waren an diesem Wochenende alle zu Hause und drängten sich zusammen, während die Welt um sie herum in Stücke brach.
Am Montagmorgen fassten wir Mut hinauszugehen. Wir hatten wohl auch nicht mehr viel zu essen im Haus, also musste es sein. Der Anblick, der sich uns bot, war unvorstellbar. Das ganze Wochenende über hatten die Einsatztruppen ihren Auftrag ausgeführt, und die Ergebnisse waren überall zu sehen. Leichen lagen in den Straßen, verkrampft im Todeskampf, ihr Blut als bräunliches Rinnsal am Straßenrand. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, und dies waren ja Menschen, die ich kannte: Nachbarn und Freunde unserer Familie, die noch vor ein paar Tagen ihrer Arbeit nachgegangen waren, ohne sich – glaube ich jedenfalls – irgendwelche Sorgen zu machen. Die meisten waren ältere Juden, die man leicht an ihrer frommen traditionellen Kleidung und ihren Hüten erkennen konnte – leichte Opfer für die Gewehrkolben und -kugeln der Einsatztruppen. Es wäre ein tröstlicher Gedanke, wenn man sich einbilden könnte, dass diese Männer einen schnellen Tod starben, aber so ist es wohl nicht gewesen. Man hat sie gequält, gedemütigt und geschlagen, zu Boden getreten und erschossen, als sie schon auf dem Boden lagen. Die Verletzungen in ihren blauschwarzen Gesichtern legten deutlich Zeugnis davon ab. Und es waren nicht nur Alte und Orthodoxe, die dort lagen. Es waren auch jüngere Leute beiderlei Geschlechts, sogar Kinder in meinem Alter, die an diesem Wochenende willkürlich von den Nazis erschossen worden waren. Wir hatten die Schüsse ja gehört.
Der schlimmste Anblick jedoch waren die Juden, die auf dem Hauptplatz von den Bäumen hingen. Männer in schwarzen Mänteln, die aussahen wie entsetzliche Parodien von Weihnachtsschmuck. Ich erinnere mich noch an den Anblick der baumelnden Hände und Füße, die Körper dem Wetter ausgesetzt. Ich habe sie nicht gezählt, und niemand von uns schaute zu genau hin. Wir wollten die Einsatztruppen ja nicht reizen. Gott weiß, wie viele Menschen an jenem Wochenende in Będzin starben. Und es waren nicht nur Juden.
Zum Teil fanden wohl einfach willkürliche Erschießungen statt. Jemand suchte zwischen den Häusern Deckung, jemand schaute nach seiner Familie. Nach Freunden. Andere Morde waren offenbar geplant. In Będzin wie in jeder anderen polnischen Stadt lebten Intellektuelle, es gab nationalistische Gruppierungen, rechte und linke. Lauter Menschen, die vor dem September 1939 eine klare Meinung dazu gehabt hatten, in welche Richtung sich die polnische Politik bewegen sollte. Wir wissen heute, warum man es auf diese Leute abgesehen hatte. Sie waren potenzielle Unruhestifter, und irgendjemand in der Stadt muss mit dem Finger auf sie gezeigt haben, sonst hätten die Einsatztruppen ja nicht gewusst, an welche Türen sie klopfen mussten. Die Leute wurden aus ihren Häusern gezerrt, in langen Reihen an den Stadtrand geführt und erschossen. So lauteten jedenfalls die Gerüchte, und nach dem, was ich am Montag in den Straßen rund um die Modrzejowska sah, zweifelte ich nicht daran.
Innerhalb von sieben Tagen war die Welt, die wir kannten, verstanden und liebten, verschwunden. Ich sah die Verwirrung in den Augen meines Vaters. Wenn es in der Vergangenheit Schwierigkeiten gegeben hatte, war er immer in die Synagoge gegangen, zum Rabbi, um mit den anderen Ältesten zu sprechen und Gott um seine Führung zu bitten. Jetzt war die Synagoge nur noch eine schwelende Ruine, und viele der Ältesten lagen tot in den Straßen.
Die Historiker streiten sich bis heute darüber, wie viele Menschen an diesem Wochenende starben. Abgesehen von denen, die in ihren Häusern verbrannten, schätzt man die Zahl auf etwa hundert Männer, Frauen und Kinder, davon vielleicht achtzig Juden. Mir schienen es damals viel mehr zu sein. Aber war nicht jeder einzelne Mensch schon einer zu viel?
Die Pivniks hielten stoisch zusammen. Viel schlimmer konnte es ja wohl nicht mehr kommen, dachten wir.
3
Besatzung
Unsere Schule war geschlossen, die Synagoge bis auf die Grundmauern heruntergebrannt. Mein Vater war kein kleiner Geschäftsmann mehr, der stolz auf seine Fähigkeiten als Schneider und seinen Status in der Gemeinde sein konnte. Er war arbeitslos wie alle anderen und gab ein potenzielles Ziel für die uniformierten Schurken ab, die durch unsere Straßen zogen.
Wir alle mussten uns an eine neue Lebensweise anpassen, irgendwie damit zurechtkommen. Wir konnten ja nicht wissen, dass unser altes Leben auf immer verloren war. Gerüchte aus dem Osten erreichten uns, und die Geschichtsbücher bestätigen es heute: Am 17. September marschierte die Rote Armee in Polen ein. Wir hatten nur achtzehn Bataillone am Fluss Bug stehen, unsere gesamten Streitkräfte befanden sich im Westen und versuchten verzweifelt, die Wehrmacht aufzuhalten. Polen war wie eine Nuss zwischen den Kiefern eines Nussknackers eingeklemmt. Am nächsten Tag wurden der Präsident und der Oberbefehlshaber unserer Streitkräfte in Haft genommen. Beide forderten die Truppen zur Fortsetzung des Kampfes auf.
Die 23. Leichte Artillerie war längst verschwunden; wir sahen sie nie wieder. Wir Juden wussten, wie man sich bei kleinen Scharmützeln wegen eines Fußballspiels oder um Ostern herum wehrte, aber diese Situation war ganz anders. Wir waren Zivilisten, und so schwer es uns immer gefallen war, uns daran zu halten, hatte unser Rabbi uns doch stets gelehrt, die andere Wange hinzuhalten. Adolf Hitler und Josef Stalin jedoch hatten die Lehren des Rabbis außer Kraft gesetzt. Sie hatten Millionen von Menschen zum Tode verurteilt.
Offiziell – auch wenn wir den Namen nie benutzten – wurde Będzin zu Bendsburg im deutschen Gau Oberschlesien. Unsere christlichen Nachbarn in der Stadt standen vor einer schwierigen Entscheidung. Diejenigen mit deutschen Vorfahren konnten ihre Anerkennung als Volksdeutsche beantragen. Das bedeutete, sie waren mindestens schon mal zur Hälfte arisch. Alle anderen wurden vertrieben und bekamen den Befehl, ihr Hab und Gut auf dem Rücken oder auf Karren und Wagen mitzunehmen und sich in dem Gebiet anzusiedeln, das die Deutschen als Generalgouvernement bezeichneten. Hans Frank, Hitlers Anwalt, wurde zum Verantwortlichen für dieses Gebiet ernannt. Er erklärte im Radio, Polen würde wie eine Kolonie behandelt und die Polen würden zu Sklaven des Großdeutschen Reiches. Zu dieser Zeit besaßen die Menschen in Będzin immerhin noch Radios. Sein Hauptquartier befand sich in Krakau, aber seine Fangarme erreichten uns alle. Juden konnten natürlich keine deutschen Staatsbürger werden, sondern unterlagen jetzt den Nürnberger Rassegesetzen, die schon seit vier Jahren auf die deutschen Juden angewandt wurden.
Juden durften keine freien Berufe mehr ausüben. Rapaport und andere jüdische Lehrer verloren ihre Stellen. Wir konnten nicht in die Armee eintreten, selbst wenn wir es gewollt hätten – allerdings stand unsere Armee irgendwo am Bug ohnehin kurz vor dem Zusammenbruch, und niemand kam ja auf die Idee, sich der Wehrmacht anzuschließen. Universitäten konnte man vergessen. Kluge Jungen in meiner Schule bekamen keine Ausbildung mehr – genau wie ich. Von diesem September an und noch lange Zeit litt Polen unter dem Verlust einer ganzen Generation von Intellektuellen.