Herzenssache. Leonardo Boff
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Diese ganzheitliche und systemische Sichtweise müssen wir heute zum bestimmenden Ausgangspunkt für unsere Deutung der Wirklichkeit wählen. Andernfalls bleiben wir die Geiseln von bruchstückhaften Ansichten, die den weiten Horizont des Ganzen aus dem Blick verlieren. In diesem Bemühen ist Jung ein besonders wichtiger Gesprächspartner, insbesondere wenn es darum geht, die Vernunft des Herzens und die emotionale Intelligenz wieder zum Zug kommen zu lassen.
Ihm kommt das Verdienst zu, die verborgene Botschaft der Mythen gewürdigt und entschlüsselt zu haben. Sie bilden die Sprache des kollektiven Unbewussten. Dieses besitzt eine relative Eigenständigkeit. Wir haben dieses kollektive Unbewusste nicht so sehr, sondern eher umgekehrt: Es verfügt über uns. Jeder von uns wird mehr gedacht, als er selbst denkt. Das Organ, das die Bedeutung der Mythen, der Symbole und der großen Träume erfasst, ist die empfindsame Vernunft oder die Vernunft des Herzens. Sie geriet im Lauf der Moderne unter Verdacht, denn sie könnte ja die Objektivität des Denkens trüben. Jung hat einen übertriebenen Gebrauch der instrumentellen, analytischen Vernunft stets kritisiert, denn diese verschließe viele Fenster der Seele.
Berühmt wurde das Gespräch, das Jung in den Jahren 1924/25 mit einem Eingeborenen des Stammes Pueblo in Neumexiko führte.
„Sieh“, sagte Ochiwiä Biano, „wie grausam die Weißen aussehen. Ihre Lippen sind dünn, ihre Nase ist spitz, ihre Gesichter sind von Falten gefurcht und verzerrt, ihre Augen haben einen starren Blick, und sie suchen immer etwas. Was suchen sie? Die Weißen wollen immer etwas, sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir glauben, dass sie verrückt sind.“ Ich fragte ihn, warum er denn meine, die Weißen seien alle verrückt. Er entgegnete: „Sie sagen, dass sie mit dem Kopf denken.“ „Aber natürlich. Wo denkst du denn?“ fragte ich erstaunt. „Wir denken hier“, sagte er und deutete auf sein Herz. (Jung 1962, 251)
Dies veränderte das Denken Jungs. Er begriff, dass die Europäer die Welt mit dem Kopf erobert hatten, dass sie jedoch die Fähigkeit verloren hatten, mit dem Herzen zu denken und zu empfinden und durch die Seele hindurch zu leben.
Selbstverständlich geht es nicht darum, der Vernunft abzuschwören – dies wäre für alle ein Verlust –, sondern darum, die Beschränktheit ihrer Auffassungsgabe zurückzuweisen. Wir müssen das Empfinden und das Herz als zentrale Elemente des Erkenntnisaktes selbst begreifen. Sie ermöglichen es uns, Werte und Sinngehalte zu erfassen, die tief im Gemeinsinn verwurzelt sind. Der Verstand ist stets verleiblichter Verstand, nicht nur im Gehirn verankert, also stets von Empfindsamkeit durchdrungen. Jung sagt:
Und doch gibt es so viel, was mich erfüllt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige in den Menschen: Je unsicherer ich über mich selbst wurde, desto mehr wuchs ein Gefühl der Verwandtschaft mit allen Dingen. (Jung 1962, 361)
Das Drama des Menschen heute besteht darin, dass ihm die Fähigkeit abhanden gekommen ist, ein Gefühl der Zugehörigkeit – etwas, das die Religionen stets gewähren – lebendig zu empfinden. Der Widerpart zur Religion ist nicht der Atheismus oder die Negation des Göttlichen. Was zur Religion im Gegensatz steht, ist vielmehr die Unfähigkeit der Bindung und Rückbindung an alle Dinge. Heute sind die Menschen entwurzelt, sie haben die Verbindung mit der Erde und mit der anima – dem Inbegriff von Empfindsamkeit und Spiritualität – verloren.
Für Jung ist das große Problem heute psychologischer Natur. Dabei geht es nicht um Psychologie im Sinne der wissenschaftlichen Disziplin oder um das Psychische als einer Dimension der Seele, vielmehr geht es um Psychologie im umfassenden Sinne als die umgreifende Ganzheit von Leben und Universum, sofern sie vom Menschen wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Sinne schreibt Jung:
Es ist meine feste Überzeugung, dass von jetzt an bis in unbestimmte Zukunft das wahre Problem ein psychologisches sein wird. Die Seele ist Vater und Mutter all der anscheinend unlösbaren Schwierigkeiten, die sich vor unseren Augen zum Himmel türmen. (Jung 1973, 1959)
Wenn wir heute die empfindsame Vernunft, eine wesenhafte Dimension der Seele, nicht wiedergewinnen, dann werden wir uns kaum dazu motivieren können, die Andersheit der anderen Seinsformen zu respektieren, die Mutter Erde mitsamt all ihren Ökosystemen zu lieben und das Mitleid mit allen Leidenden in Natur und Menschheit zu leben.
Die bloß analytisch-instrumentelle Vernunft kann, wenn sie nicht mit der emotionalen, empfindsamen Intelligenz des Herzens einhergeht, zum Wahn der Vernunft werden, wie es in der Schoah auf erschreckende Weise deutlich wurde. Der Wahn der Vernunft gebar die vom Nazi-Staat geplante Endlösung, er gebar die verbrecherischen Enthauptungen, die der islamische Staat an all denen verübte, die sich nicht von seiner Interpretation des Koran überzeugen ließen.
Die Wiedergewinnung der Vernunft des Herzens ist nicht bloß eine Aufgabe des Einzelnen, sondern eine kollektive Herausforderung. Es geht um ein neues Paradigma der Zivilisation, das mit der positiven Seite der Rationalität eine Verbindung eingehen muss, ohne die wir keine Ordnung in die Komplexität der Welt bringen könnten.
Eine vom Gewissen durchdrungene, achtsame und allem, was existiert und lebt, gegenüber empfindsame Wissenschaft ist die Voraussetzung für die Erhaltung der Lebenskraft des Planeten Erde. Andernfalls könnte er ohne uns fortbestehen.
Der Mensch – ein Knotenpunkt von Beziehungen
Im Jahr 1945 schrieb Karl Marx seine berühmten Thesen über Feuerbach, die allerdings erst im Jahr 1888 von Friedrich Engels veröffentlicht wurden. Die sechste von insgesamt elf Thesen enthält eine wahre Aussage, wenn auch in verkürzter Weise: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx 2015, 133) Tatsächlich kann man das Wesen des Menschen nicht ohne seine gesellschaftlichen Beziehungen adäquat denken. Doch es ist viel mehr als dies, denn es geht aus der Gesamtheit seiner umfassenden Bezüge hervor.
Auf der rein beschreibenden Ebene können wir, ohne eine Definition des Wesens des Menschen zu versuchen, feststellen: Es tritt als ein Knoten von Beziehungen in Erscheinung, die in alle Richtungen weisen: nach unten, nach oben, nach innen und nach außen. Es ist wie ein Wurzelstock, dessen einzelne Wurzeln sich nach allen Richtungen hin ausbreiten. Der Mensch bildet sich selbst in dem Maße heraus, in dem er diesen Komplex von Beziehungen, und nicht allein die gesellschaftlichen, aktiviert.
Mit anderen Worten: Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er als grenzenlose Offenheit in Erscheinung tritt. Offenheit für sich selbst, für die Welt, für den anderen und für die Gesamtheit der Wirklichkeit. Er spürt in sich einen unendlichen Herzschlag, auch wenn er nur Begrenztes vorfindet. Daher rührt seine stete Unerfülltheit und Unzufriedenheit.
Es geht hierbei nicht um ein psychologisches Problem, das ein Psychoanalytiker oder ein Psychiater heilen könnte. Es ist kein Defekt, sondern das ontologische Unterscheidungsmerkmal des Menschen.
Doch ausgehend von Marxens These können wir sagen, dass ein guter Teil der Herausbildung des Menschlichen tatsächlich innerhalb der Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir darüber nachdenken, welche Gesellschaftsform am ehesten die Bedingungen herstellt, dass sich der Mensch noch vollkommener in die unterschiedlichsten Bezüge hinein entfaltet.
Ohne jetzt die nötigen Vermittlungsschritte anzuführen, möchte ich direkt auf den Punkt kommen und behaupten, dass die beste Gesellschaftsform die Demokratie ist – eine gemeinschaftliche, soziale, repräsentative, partizipative Demokratie, die sich von unten nach oben aufbaut und alle ohne Ausnahme in sich integriert. Um mit