Herzenssache. Leonardo Boff
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Herzenssache - Leonardo Boff страница 6
Eine andere Weise, mit dem unendlichen Begehren umzugehen, ist es, Vorsorge zu treffen hinsichtlich dessen, was uns aus der Verwundbarkeit des Menschen selbst erwächst. Wir sind nicht allmächtig, wir sind keine Götter, die von keiner Schwäche befallen werden. Wir können hinsichtlich dessen, was scheinbar unsere Sehnsucht stillt, einer Täuschung unterliegen. Doch wir können uns vor solchen Situationen hüten, die uns zu Fall bringen könnten und die uns unsere Mitte verlieren lassen könnten.
Vielleicht bietet uns Carl Gustav Jung einen Schlüssel und Inspiration, wenn er meint, dass wir im Lauf unseres Lebens einen Individuationsprozess durchmachen. Er ist in einem umfassenden, ganzheitlichen Sinne zu verstehen. Es geht darum, sich unerschrocken und demütig das Bewusste und das – individuelle und kollektive – Unbewusste, die Bilder, die Archetypen, Licht und Schatten anzueignen. Man vernimmt das Brüllen der Raubtiere in uns, aber auch den bezaubernden Gesang des Weisen. Wie kann man eine innere Einheit herstellen, die zu einem Ausgleich der Gegensätze, der miteinander im Widerstreit liegenden Wünsche, zu gelebter Freiheit und Lebensfreude führt?
C.G. Jung meint, dass jeder Einzelne danach streben sollte, ein starkes Zentrum, ein einheitsstiftendes Self, zu schaffen, das dieselbe Rolle spielt wie die Sonne innerhalb des Sonnensystems. Sie übt eine Anziehungskraft auf ihre Umgebung aus und hält alle Planeten in ihrer Umlaufbahn. Etwas Ähnliches muss auch mit der Psyche passieren: Ein persönliches Zentrum muss geschaffen und erhalten werden, das alles mittels Reflexion und Verinnerlichung integriert. Nicht zuletzt hat hier die Kultivierung des Heiligen und der Spiritualität ihren wichtigen Stellenwert.
Die Religion als Institution engt oftmals das spirituelle Leben durch allzu viele Dogmen und allzu strenge Moralvorschriften ein. Doch Religion im Sinne von Spiritualität spielt eine grundlegende Rolle im Prozess der Individuation. Es ist ihre Aufgabe, die Person mit ihrem Zentrum, mit allen Dingen, mit dem Universum, mit der Ursprungsquelle allen Seins zu verbinden und es an dieses rückzubinden (dies ist der wörtliche Sinn von re-ligio) und ihm so das Gefühl der Zugehörigkeit zu verleihen.
Mangelnde Integration der Energie des Begehrens zeigt sich in der Auflösung sozialer Bindungen, in der tödlichen Gewalt an Schulen oder in der Tötung von Schwarzen, Armen oder Homosexuellen.
Mit den Impulsen des Begehrens umzugehen stellt also auch eine Sorge um die Gesundheit der Gesellschaft dar. Es darf von einer humanistischen, ethischen und staatsbürgerlichen Erziehung nicht außer Acht gelassen werden, das Begehren zu formen. Das große Hindernis bildet die Logik des herrschenden Systems selbst, die den Wunsch zu haben forciert und sich nicht mehr um das Sein und die zivilisatorischen Werte, um Liebenswürdigkeit, um einen guten Umgang und Respekt einem jeden Menschen gegenüber schert.
Ganz im Gegenteil: Die Medien fördern das individuelle Begehren und die Gewalt als Lösung menschlicher Konflikte. Die Globalisierung als ein Phänomen der Menschheit und eine neue Phase der Erdgeschichte sollten uns dazu verpflichten, die persönlichen Wünsche zugunsten der kollektiven Wünsche zu mäßigen und auf diese Weise das menschliche Zusammenleben in unterschiedlichen Kulturen und Traditionen stärker ins Gleichgewicht zu bringen und freundschaftlicher zu gestalten.
„Konvivialität“ und die Zukunft der Menschheit
Der Begriff „Konvivialität“ wurde von Ivan Illich (1926–2002) geprägt und verbreitet (vgl. Illich 2014). Er war einer der großen prophetischen Denker des 20. Jahrhunderts. Der geborene Wiener arbeitete mit Latinos in den USA und später in der brasilianischen Stadt Petrópolis und in Mexiko. Er wurde berühmt, als er das herrschende Paradigma der herkömmlichen Schulmedizin infrage stellte. Mithilfe des Begriffs der Konvivialität wollte er zwei Krisen bewältigen helfen: die des Industrialisierungsprozesses und die ökologische Krise.
Der Industrialisierungsprozess bewirkt, dass sich die Herrschaft des Menschen über das Werkzeug umkehrt zur Herrschaft des Werkzeugs über den Menschen. Die technischen Werkzeuge wurden geschaffen, um den Sklaven zu ersetzen, haben aber schließlich den der Massenproduktion und dem Massenkonsum unterworfenen Menschen versklavt.
Die industrielle Produktion ließ eine Gesellschaft voller Apparate, aber ohne Seele entstehen. Die herrschende industrielle Revolution geht keine Verbindung mit der Fantasie und Kreativität der Arbeiter ein. Sie „liebt“ sie nicht. Sie will sie lediglich als – körperliche oder geistige – Arbeitskraft benutzen. Wenn sie die Kreativität anspornt, dann lediglich, um die Qualität des Produktes als ganzes zu steigern und dem Unternehmen noch mehr Profit zu verschaffen.
Viele Unternehmer jedoch wurden sich dieser Verzerrung bewusst und erkannten das Maß an Unmenschlichkeit der Industriegesellschaft. Sie nahmen ihre Verantwortung für die Gesellschaft und die Umwelt, die Bedeutung der Subjektivität und die Pflege von nichtmateriellen Werten (Solidarität, Respekt, Freundschaft) in ihre Unternehmensplanung auf. Die kooperativen Beziehungen zwischen allen Beteiligten, Unternehmern und Arbeitern gleichermaßen, erlangten allmählich die Oberhand über die reine Konkurrenz und Kapitalakkumulation.
Was versteht man unter Konvivialität? Das Wort ist in einem normalen Wörterbuch nicht zu finden. Man meint damit die Fähigkeit, die Dimensionen von Produktion und Achtsamkeit, Effektivität und Mitleid, Gestaltung der Produkte und Kreativität, Freiheit und Fantasie, eines vielfachen Gleichgewichts und gesellschaftlicher Komplexität zusammenwirken zu lassen – all dies, um den Sinn der allseitigen Zugehörigkeit zu stärken.
Der technische Wert der materiellen Produktion muss Hand in Hand gehen mit dem ethischen Wert der sozialen und spirituellen Produktion. Nachdem wir die Ökonomie der materiellen Güter geschaffen haben, ist es dringend an der Zeit, die Ökonomie der menschlichen Werte zu entwickeln. Ist etwa das große, unendliche und unerschöpfliche Kapital nicht der Mensch, das spirituelle Kapital, da er doch ein unendlicher Entwurf ist?
Die menschlichen Werte der Liebe, der Empfindsamkeit, der Achtsamkeit, der Tischgemeinschaft und der Ehrfurcht können der Gier der Macht und Herrschaft Grenzen setzen sowie den Kreislauf von Ausbeutung, Produktion und Akkumulation unterbrechen.
Die Konvivialität will auch eine angemessene Antwort auf die ökologische Krise sein, die aus dem Industrialisierungsprozess der letzten vierhundert Jahre hervorgegangen ist. Der Prozess des Raubbaus an den Gütern und Gaben der Natur kann eine dramatische Verwüstung des Systems Erde und aller dieses stützenden organischen Subsysteme, einen echten planetarischen crash, hervorrufen.
Ein solches Szenario ist nicht unwahrscheinlich. Es ist schon in der Vergangenheit eingetreten, und zwar mit dem Börsencrash an der Wallstreet im Jahr 1929. Damals war dies nur eine Teilkrise des kapitalistischen Systems und betraf nicht die physischen Grenzen des Planeten. Nun aber geht es um die Krise des globalen Systems.
Sicherlich bestünde die erste Reaktion des herrschenden Systems im Kontext eines allgemeinen Bruchs darin, die Kontrolle über den Planeten zu verstärken und durch massiven Gewaltgebrauch die Aufrechterhaltung der herrschenden wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Ordnung zu sichern. Ein solches Vorgehen würde die Krise nicht entschärfen, sondern durch das Wachstum von Arbeitslosigkeit und die Unwirksamkeit fiskalischer Anpassung noch vertiefen. Genau das erleben wir mit der Krise in den Ländern des Zentrums, die in allen Nationalökonomien ihren Widerhall findet.
Einige haben die Hypothese einer apokalyptischen Katastrophe aufgestellt. Doch eine solche stellt sich nicht zwangsläufig ein. Es kommt darauf an, die Chance auf einen konvivialen Gebrauch der technischen Hilfsmittel im Dienst der Erhaltung des Lebens, des Wohlbefindens der Menschheit und der Rettung unserer Zivilisation