Der weiße Adler. Thomas Wünsch

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Der weiße Adler - Thomas Wünsch marixsachbuch

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Institution bedurfte also bestimmter Promotoren und eigener Rahmenbedingungen, die mit der Geschehenszeit nichts zu tun hatten. Parallelen mit dem 1170 (ebenfalls?) am Altar auf königlichen Befehl ermordeten englischen Erzbischof Thomas Becket, samt zügiger Heiligsprechung 1173, mögen stimulierend für die kirchliche Seite in Polen gewesen sein, die Kanonisation anzustreben. Eine Schlüsselrolle für die anhaltende und gesamtstaatliche bzw. nationale Verehrung des Krakauer Bischofs spielten jedoch die Legenden und Wunderberichte, die der Krakauer Dominikaner Vincentius von Kielce in der Mitte des 13. Jahrhunderts in zwei Viten (Lebensbeschreibungen) festhielt. Sie wurden in verschiedenen Chroniken und Kompendien des 14. Jahrhunderts übernommen und standen nach Auffassung der meisten polnischen Historiker in einem Kontext mit den politischen Anstrengungen Władysław łokieteks, das Königtum und damit einen vereinigten polnischen Staat wieder zu errichten. Stanisław wurde zum Bindeglied für die gesamte Dynastie der Piasten stilisiert, und in der Tat begegnet der Stanisław-Kult im 14. Jahrhundert nicht nur in Kleinpolen, sondern auch in Schlesien und Kujawien. Bereits im Mittelalter war Stanisław auf allen Ebenen der Verehrung präsent: als Objekt der Volksfrömmigkeit genauso wie als Schutzheiliger des polnischen Königreichs oder als Patron der Krakauer Universität. Die politische Dimension des Kults war dabei immer überrepräsentiert, und gerade im 19. Jahrhundert, in der Zeit eines (wiederum) geteilten Polen, stieg seine Bedeutung exponentiell an. Stanisław war der Vorkämpfer in der Auseinandersetzung mit den Teilungsmächten, und er spielte eine sichtbare Rolle in der nationalen Sammlung der Polen angesichts eines nicht mehr bestehenden Staates. Die Kirche im Krakauer Stadtteil Skałka, dem traditionellen Ort des Martyriums, wurde 1882, in der Zeit der Habsburger Herrschaft in Kleinpolen (»Westgalizien«), zu einem Pantheon berühmter Polen ausgebaut. In dieselbe Richtung geht die Errichtung neuer Kirchen mit seinem Patrozinium, die nach der Wiederherstellung Polens im Gefolge des Ersten Weltkriegs stattfand. Auch wenn Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Polen 1979 vor allem die übergreifende christlichmoralische Vorbildfunktion des Heiligen hervorhob, blieb Stanisław doch in der längsten Zeit seiner Verehrung eine prominent politisch-nationale Figur.

      Exkurs: Polens Westgrenze – Schlesien, Pommern, Preußen

      Die (allgemeine) Frage nach der nationalen Zugehörigkeit von Teilbereichen zu einem nationalen Ganzen stellt sich im Fall Polens vor allem an der Westgrenze und an der Ostgrenze. Es sind zwei unterschiedliche Fragen: Bei der Westgrenze geht es um Territorien, die (größtenteils) dem polnischen Staat von Anbeginn angehörten, im Lauf der Zeit die staatliche Zugehörigkeit gewechselt haben, und heute wieder Teil Polens sind. Im Fall der Ostgrenze sprechen wir dagegen von Gebieten, die an Polen angegliedert wurden, als sich die Monarchie auf einem Höhepunkt ihrer Macht befand, über Jahrhunderte den Staat mit bildeten, heute jedoch in den Staaten Ukraine sowie Belarus und Litauen aufgehoben sind. Gleich ist beiden Fragen jedoch, dass sie im Mittelalter entstanden sind, weshalb sie an den Zeitpunkten ihrer jeweiligen Genese behandelt werden.

      Für das Verständnis der Entwicklung an der Westgrenze Polens, und dabei zunächst in Schlesien, ist die Erinnerung an die Zeit der Teilfürstentümer hilfreich. Zwar wird man auch der Senioratsverfassung, wie sie sich nach dem Tod von Bolesław Krzywousty nach 1138 einspielte, ein Funktionieren nachsagen können. Doch trug der Tod des letzten Krakauer Seniors 1202 dazu bei, dass seit diesem Zeitpunkt keine polnische Zentralgewalt mehr bestand und die Teilherzogtümer mehr oder weniger souveräne Gebilde waren. Die Herzöge in ihren Herrschaftsbereichen verfügten über die Regalien; sie waren souverän und in diesem Sinne königsgleich. Diese Situation eines Partikularismus wurde lediglich dadurch abgeschwächt, dass es ein piastisches Verwandtschaftsband gab, und dass das Gedächtnis an ein ehemals gemeinsames Staatswesen noch nicht untergegangen war. Doch rückte diese Reminiszenz in dem Moment in den Hintergrund, als mit Böhmen gegen Ende des 13. Jahrhunderts eine starke Macht auf den Plan trat, die zentrifugale Tendenzen in dem zersplitterten polnischen Herrschaftsverbund verstärkte.

      Den Auftakt gab der böhmische König Přemysl Otakar II. (reg. 1253–1278), der eine verwandtschaftliche Verbindung mit den Herzögen von Breslau einging. In den 1280er-Jahren wurden einzelne schlesische Herzogtümer in eine Lehnsabhängigkeit von Böhmen gebracht – wobei die Hochphase des Übergangs der schlesischen Herzogtümer an die Krone Böhmen in Luxemburgischer Zeit liegen sollte. Es war das Ergebnis der Ostpolitik vor allem Johanns von Böhmen (reg. 1310/11–1346), Sohn Kaiser Heinrichs VII., der in den Jahren 1327–29 die Mehrheit der schlesischen Herzogtümer an seinen Staat band. Nur wenig später folgten die Herzogtümer Glogau und Münsterberg sowie das Bistumsland der Bischöfe von Breslau. Die hegemoniale Außenpolitik der Luxemburger, von Karl IV. fortgeführt, entfaltete sich zwischen den Protagonisten Ungarn, dem Ordensland Preußen und einem sich langsam wieder zusammenschließenden Polen. Am Ende zeigte sich, festgeschrieben in den Verträgen von Trenčín und Visegrád 1335 sowie Krakau 1339, dass der 1320 gekrönte Piastenkönig Władysław łokietek sein neu errichtetes Reich ohne die schlesischen Herzogtümer bauen musste. Karl IV. zog als Nachfolger Johanns von Luxemburg insofern den Schlussstrich, als er nicht nur das letzte verbliebene schlesische Herzogtum, Schweidnitz-Jauer, 1368 in den böhmischen Staat inkorporierte. Er regelte auch den rechtlichen Status der schlesischen Übernahmen für die weitere Zukunft, indem er 1348 die Reichsmittelbarkeit Schlesiens herstellte. Damit war verfügt, dass das Lehnsverhältnis der schlesischen Herrschaftsbereiche nicht gegenüber dem Römischen Reich bestand, sondern gegenüber der Krone Böhmen. Dieser Zustand hielt sich, bis 1742 aufgrund der von König Friedrich II. vom Zaun gebrochenen Schlesischen Kriege ein Großteil des Landes preußisch wurde; für den Rest, das sogenannte Österreichisch-Schlesien, galt das Verhältnis bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs 1806 (bzw. 1866, als der Deutsche Bund endete).

      Die in der Forschung gelegentlich geäußerte Ansicht, dass seit den Ereignissen von 1327–39 »Schlesien in Deutschland« zu liegen gekommen sei, scheint am Kern vorbeizugehen. Wenn, dann wird man gerade angesichts einer besonders intensiven Immigration und kulturellen Assimilation davon sprechen können, dass seither »Deutschland (auch) in Schlesien« lag. Die charakteristische Rolle Schlesiens bestand auch seit der Zeit der Luxemburger darin, an verschiedenen Kulturräumen zu partizipieren. Die Anbindung an den deutschen Raum war schon allein sprachlich nicht zu übersehen, jedenfalls was die niederschlesischen Teile anging. Aber Böhmen war nicht Deutschland, und die Tatsache, dass es Bischöfe aus Böhmen auf dem Breslauer Stuhl gegeben hat (allen voran Przeclaus von Pogarell, reg. 1341–76), heißt nicht, dass damit automatisch eine eindeutige Wendung nach Westen vorgegeben war. Gerade das Bistum Breslau zeigt mit seinem Verbleiben in der Kirchenprovinz Gnesen bis 1821, dass die Bande zwischen Schlesien und Polen nicht abrissen. Zu dieser Mehrfachbindung der schlesischen Länder gehört auch das scheinbare Paradoxon, dass sich einzelne schlesische Herzöge bis ins 15. Jahrhundert immer wieder vom polnischen König in Dienst nehmen ließen; so etwa, wenn es gegen den Deutschen Orden ging. Ein latentes Zugehörigkeitsgefühl zum polnischen Herrschaftsverbund mag eine Rolle gespielt haben, vielleicht auch eine Machtpolitik, die eher regional blieb.

      Die auch gegenüber Böhmen gewahrte Distanz und ein spezifisch regionales Bewusstsein verstärkten sich vehement in der Zeit der Hussitenkriege und während der Expansionspolitik des ungarischen Königs Matthias Corvinus (reg. 1458–1490). Die Hussitenzeit wurde in Schlesien als eine Zeit von kriegerischen Einfällen und Beutezügen erlebt, gegen die sich schließlich, unter der Führung des Breslauer Bischofs, eine relative Einigung der schlesischen Herren herstellen ließ (Strehlener Einung 1427). Der gegen den hussitischen König von Böhmen seit 1469 konkurrierende Matthias Corvinus wiederum förderte ein schlesisches Eigen- und Einheitsbewusstsein insofern, als er die schlesische Staatlichkeit als Gegengewicht zu Böhmen zu festigen suchte. Seit dieser Zeit lässt sich zu Recht von einem übergreifenden Schlesien-Verständnis sprechen, das in erzählenden Werken Ausdruck findet: Der Breslauer Chronist aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, Peter Eschenloer, bezeichnet Schlesien als »Vaterland« (patria); und der am Beginn des 16. Jahrhunderts als Theologe in Neisse tätige Humanist Pankraz Vulturinus hielt fest, dass sein schlesisches Vaterland keineswegs mit Deutschland identisch sei. Als weiterer Faktor, der die kulturelle und politische Mehrfachbindung Schlesiens sowie seine Eigenständigkeit auch innerhalb

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