Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger
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Die Linke konnte ihr Glück kaum fassen. Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping twitterte euphorisch:
»Die Verständigung in #Thüringen hat histor. Dimension: Damit ist die von CDU praktizierte Äquidistanz faktisch erledigt. Good-bye Hufeisentheorie. Dass CDU endlich die Ausgrenzung linker Ideen korrigiert, ist eine gute Nachricht für den antifaschistischen Konsens des Grundgesetzes.« 26
Am 04. März 2020 war es schließlich so weit, Bodo Ramelow wurde zum neuen, alten Ministerpräsidenten gewählt. Durch strategische Enthaltung und Wahlverweigerung seitens der Abgeordneten von CDU und FDP kam Ramelow im dritten Wahlgang auf die erforderlichen Stimmen. Die Tagesschau frohlockte und verkündete Erleichterung.
»Dementsprechend erleichtert reagierten Bundespolitiker nun nach der geglückten Wahl. ›Das Chaos in Thüringen hat vorerst ein Ende. Ich bin sehr froh, dass ein erneuter Tabubruch durch FDP und CDU ausgeblieben ist‹, schrieb der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil auf Twitter. […] Linken-Parteichefin Katja Kipping sah sich bestärkt: ›Thüringen ist nicht Deutschland, aber Deutschland kann heute in Thüringen lernen, dass die Rechte nicht gewinnt, wenn es eine echte solidarische Alternative gibt.‹« 27
Dass CDU und FDP bei dieser Wahl-Variante den linken Bodo Ramelow unterstützten, war für die Tagesschau selbstverständlich kein Tabubruch. Vielmehr sei die neue »solidarische Alternative« zukünftig womöglich auch eine Option für eine Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke auf Bundesebene. Der Spiegel schwärmte von den neuen Möglichkeiten und deklarierte Bodo Ramelow kurzerhand als »überparteilich« und fast gar nicht mehr »links«:
»Jetzt, in seiner neuen, überparteilichen Rolle, ist er weniger Linker denn je. Und gleichzeitig, das ist die Dialektik, liegt darin diese große Chance für seine Partei: Ramelow muss sich weiter von der Linken emanzipieren, um sie letztlich in die Koalitions- und Regierungsfähigkeit auf Bundesebene führen zu können.« 28
Die offenkundige Parteinahme der Leitmedien wurde vor allem damit legitimiert, die AfD abwehren zu müssen. Das Erstarken der AfD, Klimakollaps und ab März auch noch der Pandemieschutz würden ganz neue Strategien erfordern. Inzwischen müsse man mit der nationalen Demokratie ein Stück weit kreativer und flexibler umgehen, um die mannigfaltigen globalen Krisen bewältigen zu können. Bezüglich dieses »kreativen« Umgangs mit Demokratie sind sich selbst ehemalige politische Erzfeinde wie Hans-Peter Friedrich (CSU) und Robert Habeck (Grüne) einig. Heute müsse man sich erlauben, Demokratie »völlig neu zu denken«, vernimmt man inzwischen aus fast allen politischen Lagern. Robert Habeck äußert sich angesichts der Klimakrise auf seiner Homepage:
»Weil die globale Klimakrise Fahrt aufnimmt, weil ein globaler, digitaler Kapitalismus schneller und schneller wird, sind politische Entscheidungen so häufig nur nachlaufend, reparieren, statt gestalten. […] Deshalb müssen wir auch die Art, wie Politik gemacht wird, neu erfinden. […] Wenn wir realistisch sein wollen, müssen wir radikal werden.« 29
Hans-Peter Friedrich, weniger vom Klima als von der Thüringer Landtagswahl bestürzt, ergänzt am 08.02.2020 auf Twitter:
»Mensch @RolandTichy, was heißt hier ›demokratische Wahl‹. Sie können doch nicht einfach die Mehrheit entscheiden lassen, wenn eine moralisch höherwertige Minderheit anderer Meinung ist. Wir müssen Demokratie völlig neu denken.«
Viel direkter und offener kann man den bisherigen demokratischen Konsens kaum aufkündigen. »Demokratie neu denken« und »höherwertige Minderheit bevorzugen« bedeutet, eine demokratische Stimme ist nicht einfach eine Stimme. Nach Friedrichs Auffassung sollten Stimmen nach ihrem »moralischen Gewicht« bemessen werden, und eine Stimme von »Guten« oder von »Experten« wiegt nach dieser Auffassung schwerer. Die »Guten«, also Menschen wie Angela Merkel, Robert Habeck, Hans-Peter Friedrich oder Herbert Grönemeyer, dürfen und müssen ein Stück weit totalitär sein. Tatsächlich bekundet Herbert Grönemeyer, unter frenetischem Beifall seiner Fans, die Liebe zu einer »guten Diktatur«: »…dann liegt es an uns [die Gemeinschaft der Guten], zu diktieren, wie eine Gesellschaft auszusehen hat …«
Aufschrei der Medien? Natürlich Fehlanzeige. Stattdessen Glückwünsche von höchster Stelle. Außenminister Heiko Maas greift Grönemeyers Aussage auf und erwidert auf Twitter: »Es liegt an uns, für eine freie Gesellschaft einzutreten und die Demokratie gemeinsam zu verteidigen. Danke an Herbert #Grönemeyer und allen anderen, die das jeden Tag tun.«30
Neuer Gesellschaftsvertrag
In den Tagen nach der Thüringer Landtagswahl spricht der Philosoph, Autor und Videoblogger Gunnar Kaiser unter dem Titel »Jetzt lassen sie die Masken fallen« auf YouTube einen sehr nachdenklichen Text ein. Unter dem Eindruck der immer offener gegen die Verfassung handelnden Akteure in Politik und Medien, der Selbstbemächtigung Merkels sowie dem Linksdrall der CDU spinnt Kaiser den Faden weiter und prognostiziert das baldige Ende der bisherigen Demokratie. Unverkennbar ist Thüringen erst der Anfang einer politischen Lage, die angesichts der supranationalen Agenden auf den Politikfeldern Pandemie- und Klimaschutz, Gender, Migration und Finanzpolitik mit dem bisherigen Demokratiesystem kaum noch umzusetzen ist. Deshalb wollen viele Politiker Demokratie »neu denken«. Die ehemaligen Volksparteien verzwergen, während rechte und linke Ränder wachsen. Stabile nationale Machtverhältnisse, unter denen EU-, UN- und WHO-Vorgaben (zur Klimarettung, Migration und Pandemieabwehr …) umgesetzt werden könnten, lassen sich kaum noch herstellen. Merkels rigoroser Umgang mit der Wahl in Thüringen stellt so gesehen nur eine allererste Notreparatur dar. Natürlich bemüht man sich, das Geschehen als einmaligen Sonderfall darzustellen; tatsächlich jedoch werden sich ähnliche Konstellationen häufen. Der Hautstadtjournalist und stellvertretende Chefredakteur der Welt, Robin Alexander, beschreibt die Problematik in einem vorausschauenden Artikel mit dem Titel »Thüringen war kein Unfall. Thüringen war der Anfang«:
»Nun wird man das Desaster von Erfurt mit regionalen Besonderheiten erklären: Hinter den sieben Thüringer Bergen hätten sieben CDU-Zwerge verrückt gespielt. Aber dieses Märchen kann man getrost vergessen. Die Widersprüche, denen die Christdemokraten in Erfurt nicht gewachsen waren, stellen sich der Partei in ganz Ostdeutschland. Auch die Gemütslage, die von Unverständnis über die Politik der Kanzlerin längst in Aggression gegenüber der Berliner Parteizentrale umgeschlagen ist, gleicht sich überall in den neuen Ländern – und teilweise auch darüber hinaus. Deshalb war Thüringen kein Unfall, sondern könnte erst der Anfang gewesen sein.« 31
Auf Dauer muss das bestehende Demokratiesystem nachhaltig umgebaut werden, damit »unreife Wähler«, die offenbar vorzugsweise im Osten der Republik zu finden sind, nicht immer wieder dazwischenfunken. Gunnar Kaiser hat recht, wenn er annimmt, dass der Weg unweigerlich in Richtung einer Technokratur und Expertenregierung führen wird. Dabei wird die bisherige klassische Gewaltenteilung durch einen Expertenbeirat ergänzt, der die Regierung bezüglich der angeblich übergroßen Herausforderungen, wie der anthropogenen Klimakrise oder einem Pandemiegeschehen, berät. Angesichts »globaler Krisen« soll der zunehmend überforderte Wähler über Expertenbeiräte »entlastet« werden. Denn was kann ein ostdeutscher Handwerker zur politischen Willensbildung schon Sinnvolles beitragen, wenn sich 97 Prozent der »besten und schlausten Köpfe der Welt« (Markus Söder) einig sind, was die Politik zu tun hat? Die Coronakrise hat dieses Modell, Aushebeln der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer globalen Expertenelite, erstmalig erfolgreich etabliert. Vertreter des Weltwirtschaftsforums, UN, WHO und EU werden dem verängstigten Bürger im Laufe des Jahres 2020 erklären, dass dieses »neue