Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger
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»Die sozialistischen Lehren behalten die Vorstellung der mittelalterlichen Mystik von drei Stufen des historischen Prozesses bei, ebenso wie das Schema vom Fall der Menschheit und ihrer Rückkehr in den Urzustand in vollkommenerer Form. Folgende Bestandteile machen diese Lehren aus:
1.Der Mythos vom ursprünglichen glücklichen ›Naturzustand‹, dem ›Goldenen Zeitalter‹, das durch den Träger des Bösen, das Privateigentum, zerstört worden sei. [Jean-Jacques Rousseau, der ›edle Wilde‹]
2.Die Entlarvung der Gegenwart. Die zeitgenössische Gesellschaft wird als unheilbar sündhaft, ungerecht, unsinnig, nur zur Zerschlagung tauglich dargestellt. Erst auf ihren Trümmern könne ein Gesellschaftssystem geschaffen werden, das den Menschen das Höchstmaß von Glück bereite, das zu erleben sie fähig seien.
3.Die Prophezeiung einer neuen, auf sozialistischen Prinzipien aufgebauten Gesellschaft, in der alle Nachteile der Gegenwart verschwinden. Dies sei der einzige Weg, um die Menschheit zum ›Naturzustand‹ zurückkehren zu lassen, wie Morelly sagt, der Weg vom unbewussten zum bewusst erlebten Goldenen Zeitalter.
4.Die Idee der ›Befreiung‹, die von den mittelalterlichen Ketzerlehren spirituell als Erlösung des Geistes von der Macht der Materie verstanden wurde, verwandelt sich in den Aufruf zur Befreiung von der Moral der zeitgenössischen Gesellschaft, von ihren sozialen Einrichtungen und vor allem von Privateigentum. Als Triebkraft dieser Befreiung wird zunächst die Vernunft anerkannt, doch allmählich nimmt das Volk, die Armen, [heute: Minderheiten, Moslems, Flüchtlinge …] ihre Stelle ein. In der Weltanschauung, die von den Teilnehmern an der ›Verschwörung der Gleichen‹ vertreten wurde, erkennen wir dieses Konzept in schon vollständiger Form. Im Zusammenhang damit werden auch neue konkrete Züge für den Plan zur Errichtung der ›Zukunftsgesellschaft‹ ausgearbeitet: Terror, Einquartierung der Armen in die Wohnungen der Reichen, Beschlagnahme des Mobiliars, Befreiung von Schuldverpflichtungen und so weiter.« 39
Die »Große Transformation« geriert sich als innovativ und modern, in Wirklichkeit kopiert sie lediglich die ewige sozialistische Grundkonzeption: Erst »die Natur wäre ohne den Menschen und seine Bedürfnisse besser dran«, über »so kann es nicht mehr weitergehen«, gefolgt von »bestehende Strukturen müssen zerschlagen werden«, um schließlich die Verheißung auszusprechen: Eine vor dem Klimakollaps gerettete neue Weltordnung, in der »klimaverträgliche Gesellschaften ihren Konsum auf ein absolutes Minimum reduziert haben«. Zum letzten Satz drängen sich mir Assoziationen einer Kommune auf, ohne persönlichen Besitz, ohne Ehepaare und ohne festgelegte sexuelle Orientierungen. Alles gehört allen, auch die Kinder, und niemand wird mehr sinnlos konsumieren, weil alle so glücklich sind. Dann wird endlich alles gut sein …
Doch erst, wenn man das sozialistische Konzept als Archetypen der Seele erkennt, die zweifellos spirituellen Charter haben, kommt man der Sache näher. Trotz der Vielzahl philosophischer Weltbilder lassen sich prinzipiell zwei grundverschiedene Positionen oder Gewissheiten ausmachen, von denen aus der Mensch das Sein in der Welt verortet. Zugespitzt und grob vereinfacht, könnte man auch von einer grundsätzlich »spirituell-transzendenten« und einer grundsätzlich »materialistisch-sozialistischen« Weltsicht sprechen. Die transzendente Position geht von folgender Grundannahme aus:
1. Es gibt einen Gott – und ich bin es nicht.
Die sozialistische Sicht ist diametral anders:
2. Es gibt keinen Gott – oder falls doch, könnte es ebenso ich selbst sein. Die zweite Position geht davon aus, dass kalte Materie ohne Ziel, Plan oder Sinn zufälligerweise Bewusstsein entwickelt hat – den Menschen als höchstes, bewusstes Wesen. Ob Agnostizismus, Atheismus, Theismus (Monotheismus oder Polytheismus), Pantheismus oder Materialismus – im Prinzip lassen sich die unterschiedlichen Weltbilder grob der einen oder anderen Grundannahme zuordnen. Die Erzfeindschaft zwischen Sozialismus und Religion ist daher logisch und folgerichtig. Nichts ärgerte Denker wie Karl Marx mehr als Menschen, die ihre Sinngewissheiten in der Transzendenz verorten. Was Marx als Phlegma und »Opium fürs Volk« ansah, war der Umstand, dass spirituell verwurzelte Menschen ihr Dasein in einen höheren Sinnkontext einpassen. Dieser besteht im Wesentlichen daraus das Paradox menschlicher Freiheit vs. Unverfügbarkeit anzuerkennen. Bei diesem Weltmodel ist der Mensch einerseits ein freies und für sein Handeln verantwortliches Wesen – dennoch ist er zugleich in ein gegebenes Schicksal gestellt, das sich seinem Machtbereich entzieht. Kurz gesagt: Etwas ist größer. Einem Menschen mit diesem Weltbild ist bewusst, das ihm wesentliche Dinge unverfügbar bleiben. Der Widerspruch, einerseits handeln zu müssen und andererseits dennoch die begrenzte Wirkmächtigkeit des eigenen Handels anzuerkennen, erfordert Demut und Reife. Viele Philosophen haben sich an diesem Dilemma abgearbeitet. Immerhin gilt es, bei jedem der mannigfaltigen Alltagsprobleme unterscheiden zu können, was verfügbar ist und was nicht. Das sogenannte »Gelassenheitsgebet« bringt die Schwierigkeit des menschlichen Handelns auf den Punkt:
»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
In jedem Fall stellt die faktische Unverfügbarkeit über die elementarsten Dinge des Lebens – Gesundheit, Liebe und Tod – eine unfassliche Brüskierung der menschlichen Seele dar. Die wesentlichen Dinge des Lebens sind gegeben und lassen sich auch mit der vegansten, sportlichsten, ökologischsten und geimpftesten Agenda weder herbeiführen noch garantieren. Über die Fragen, ob man gesund bleibt, geliebt wird, einen Partner verliert oder wann man stirbt, kann kein Mensch verfügen. Würde man in der christlichen Terminologie bleiben, ist der Sozialismus die Sprache der Schlange, die dem Menschen einredet, er selbst sei Gott und könne allein über sein Schicksal bestimmen. Das Bemühen, aus eigener Kraft Glück, Sicherheit und Gesundheit zu erschaffen, sind folglich die nächsten Schritte. Die Hybris des säkularen Menschen gegebene und elementare Strukturen beherrschen zu wollen, zeigt sich in allen Lebensbereichen. Das Zweckbündnis mechanistisch denkender Silicon-Valley-Milliardäre mit sozialistischen Weltverbesserern wird zumindest vom selben weltanschaulichen Unterbau getragen: Der Mensch allein gestaltet sein Schicksal und das der Welt. Dies zeigt sich im infantilen Postulat der Beherrschung des Klimas, im Wahnwitz der Pandemie-Kontrolle durch Lockdown, im Umgang mit natürlichen Alters- und Sterbeprozessen oder in der Neukonzeption des menschlichen Genoms. 95-Jährige werden mit den kompliziertesten Operationen gequält, um »den Tod zu besiegen«, anstatt in Würde sterben zu dürfen. Auch hier zeigte die Coronakrise die dramatischen Folgen einer spirituell entwurzelten Gesellschaft. Im Kampf gegen das »Killervirus« wurden alte Menschen mitten in ihrem natürlichen Sterbeprozess in ein künstliches Koma versetzt, zwangsbeatmet und mit allen nur erdenklichen technischen Mitteln am Leben erhalten. Schlussendlich starben sie dann trotzdem, nur zusätzlich noch einsam und fern von ihren Liebsten. Auf Naturkatastrophen, zu denen Virus-Epidemien ebenso gehören wie Vulkanausbrüche, reagiert die säkulare Gesellschaft mit einem Höchstmaß an Entrüstung und der Suche nach »Verantwortlichen«. Der Tagesspiegel stellt bezüglich der Bedrohung durch das Coronavirus gar die »Systemfrage«:
»Das Coronavirus stellt auch die Systemfrage. Man kann Covid-19 als prototypisches Problem des 21. Jahrhunderts betrachten: Es ist global. Es ist mit Wissenschaft, Technologie, Kooperation, menschlichem Verstand und der Bereitschaft, Verhalten zu ändern, wahrscheinlich lösbar – so wie die Folgen des Klimawandels, des Artenschwundes, der Migration, der Mikroplastik-Verschmutzung, der Medikamenten-Resistenzen, der Digitalisierung oder des Wandels der Arbeitswelt. Der Unterschied ist die Unmittelbarkeit. Sie macht das Virus zum Testfall: Sind wir als freie, aufgeklärte, über unbeschränkten Zugang zu Informationen verfügende