Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader страница 26
Die Fenster des Zimmers gingen zum Hof hinaus, und da die Bäume und Gesträuche ihr Laubdach verloren hatten, konnte Richard alle Wege des kleinen Parks übersehen, in dem ein Gärtner damit beschäftigt war, die Beete mit Strohdecken gegen den Winterfrost zu schützen. Da unser Dichter für den Augenblick nichts Besseres zu tun hatte, nahm er die Fabrikgebäude und das gegenüberliegende Staatsgefängnis mit seinen hohen Strebepfeilern und vergitterten Fensterchen in Augenschein. Als er die höheren Regionen seines Gesichtskreises lange genug geprüft hatte, sandte er seine Blicke wieder zur Erde nieder, wo der Gärtner mit seiner Arbeit beschäftigt war. Der Mann war nicht mehr allein; ein junges Mädchen, das während der Zeit, in der Richard die Gebäude gemustert hatte, zu ihm getreten war, stand neben ihm und deutete mit der Hand auf einige junge Bäume, die sie vorzugsweise seiner Fürsorge zu empfehlen schien.
Es lässt sich wohl denken, dass sich des Dichters ganze Aufmerksamkeit auf diese Gruppe richtete, zumal da die Erscheinung des jungen Mädchens keine gewöhnliche war. Richard konnte den ganzen Reiz der wahrhaft junonischen Gestalt wahrnehmen, denn nur ein schwarzer seidener Oberrock, von keinem Mantel neidisch bedeckt, schmiegte sich an die zarten Glieder und ließ die schönen harmonischen Formen deutlich hervortreten. Das üppige braune Haar quoll in Locken auf die Schultern herab und der dichte Kranz, den es auf dem Haupt bildete, wurde durch eine einfache dunkelrote Schleife geschmückt. Da das junge Mädchen dem Lauscher den Rücken zuwandte, harrte er mit Ungeduld des Augenblicks, wo es ihm durch eine Bewegung oder Veränderung der Stellung Gelegenheit bieten würde, auch das Gesicht zu erblicken, denn dass es an Schönheit der Gestalt nicht nachstehen würde, glaubte er mit Gewissheit annehmen zu können. Endlich kam dieser Augenblick; die junge Dame wandte sich um und deutete auf eine Weinrebe, die am Wohnhaus, aus dessen Fenster Richard sah, vom Wind abgerissen und zur Erde gesunken war. Aber mit einem flammenden Gesicht bebte der junge Mann zurück, als er einen Blick auf die himmlischen Züge geworfen hatte; sein Blut stockte fast in den Adern und die Sinne schienen ihm vergehen zu wollen: Es war Anna, der Gegenstand seiner feurigen, hoffnungslosen Liebe. Wie angewurzelt blieb er in einiger Entfernung von dem Fenster stehen; er wollte noch einmal hinblicken, um sich zu überzeugen, dass er sich nicht getäuscht hatte, doch er vermochte es nicht, sich dem Fenster wieder zu nähern; ein unerklärliches Gefühl hielt ihn zurück. In diesem Augenblick war Anna mit dem Gärtner dem Haus so nahe gekommen, dass der immer noch regungslose Dichter ihre Worte deutlich verstehen konnte; er hatte es nun nicht mehr nötig, sich Gewissheit mit den Blicken zu verschaffen, denn der Ton ihrer Stimme, der immer noch wie ein himmlisches Echo in seinem Herzen widerhallte, überzeugte ihn restlos, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Das Eintreten einer Magd mit dem Frühstück brachte wieder Bewegung in den armen Menschen.
»Der junge Herr lässt sich entschuldigen«, sprach die Domestikin, »dass er so lange auf sich warten lässt; eine wichtige Korrespondenz, die keinen Aufschub duldet, fessele ihn nur noch auf kurze Zeit an das Kontor, dann würde er sogleich bei Ihnen sein. Sie möchten indes das Frühstück einnehmen.«
»Danke«, antwortete Richard, mit Mühe seine Aufregung verbergend; »der junge Herr soll sich meinetwegen ja nicht von seinen Geschäften abhalten lassen.«
Das Mädchen trat zum Fenster, um es zu schließen.
»Gehört der Garten zum Haus?«, fragte Richard, der seiner wieder Herr geworden war.
»Ja«, antwortete die Magd.
»Wer ist die junge Dame?«, fragte er so unbefangen, wie es ihm möglich war, weiter.
»Welche?«
»Die dort unten im Garten ist.«
Die Magd sah zum Fenster hinaus.
»Das ist Fräulein Anna«, war die Antwort, »die Tochter des alten Herrn Hubertus und die verlobte Braut unseres jungen Herrn.«
Wäre die Magd in diesem Augenblick nicht mit dem Schließen des Fensters, das sich widerspenstig zeigte, beschäftigt gewesen, so hätte sie die Totenblässe sehen müssen, die ihre Antwort auf Richards Gesicht erzeugte. Am ganzen Körper zitternd sank er auf dem Stuhl neben dem Tisch nieder, auf dem das Frühstück stand. Ohne sich weiter umzusehen, verließ die Magd das Zimmer. Richard war allein.
»Welch ein furchtbares Geschick!«, sprach er leise vor sich hin. »Mein großmütiger Freund entreißt mich mit Gefahr seines Lebens dem Tod, um mich einem Dasein wiederzugeben, das durch diese Tat zur grässlichsten Marter für mich wird. O ich wusste es wohl, dass mir in dieser Welt kein Glück mehr blüht; mir folgt das Unglück, wo immer ich den Fuß auch hinsetzen mag; selbst die Wohltaten der Menschen werden mir verhängnisvoll. Und meine arme Mutter! Schon glaubte ich, ihr ein ruhiges Alter bereiten zu können, als mich plötzlich das Schicksal wieder zu Boden schmettert und noch elender macht, als ich je gewesen bin! – Anna ist die geliebte Braut meines Wohltäters, dieselbe Anna, für die ich eine verzehrende Leidenschaft hege, eine Leidenschaft, die mir das Leben unerträglich macht. Nein, ich muss fort, fort aus diesem Haus, fort von der Erde!«
Richard erblickte auf einem Tisch neben dem Fenster ein Schreibzeug mit Papier. Ohne sich länger zu besinnen, schob er einen Stuhl heran, ergriff mit zitternder Hand die Feder und schrieb einige Zeilen; dann faltete er das Papier zu einem Streifen und bildete eine Schleife daraus, da ihm das Material zum Siegeln fehlte. Mit dem Papier in der Hand verließ er das Zimmer.
Als er auf den Korridor trat, begegnete ihm dieselbe Magd, die ihm das Frühstück gebracht hatte.
»Mein Kind«, sprach er leise und mit bebender Stimme, »Sie suche ich.«
»Womit kann ich dem Herrn dienen?«, fragte die Magd und sah den aufgeregten Dichter erstaunt an.
»Würden Sie mir wohl die Gefälligkeit erweisen, dem jungen Herrn des Hauses dieses Billett zu übergeben?«
»Gern.«
Richard gab dem Mädchen das Papier, eilte den Korridor entlang, beide Treppen hinab und stürzte wie ein gejagtes Wild zur offenen Tür hinaus. Nur die Magd hatte seine Flucht gesehen, die sich nicht weiter darum kümmerte, sondern ruhig ihren Geschäften nachging, ehe sie den Brief abgab.
Während sich die soeben beschriebene Szene im zweiten Stock des Hauses ereignete, hatte sich die Gruppe im Garten um eine Person vermehrt: Franz, der aus dem Fabrikgebäude in sein Kontor zurückkehren wollte, war hinzugetreten.
»Nun, Sie Nachtschwärmer«, fragte Anna lächelnd, »haben Sie ausgeschlafen?«
Der junge Mann erinnerte sich des Vorwands, den Kaleb seinem Besuch bei dem Bankier untergeschoben hatte; er konnte sich einer kleinen Verlegenheit nicht erwehren.
»Vollkommen!«
»Ist Ihr Freund abgereist?«, fuhr das junge Mädchen fort,