Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader
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Читать онлайн книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader страница 25
»Ist es möglich«, rief er erstaunt, »dass man solche Beschuldigungen gegen die Krone erheben kann? Es ist ja doch nur Verleumdung, nicht wahr? Aber welchen Zweck verfolgen Sie, mein Herr, dass Sie hierherkommen und mir dies alles sagen?«
»Ich verfolge durchaus keinen Zweck«, antwortete der Fremde gleichgültig; »ich ging hier vorbei, hörte zufällig Ihr Selbstgespräch und wollte nur Ihre Neugierde befriedigen.«
»Danke, mein Herr! Demnach ist der Verfasser jenes Libells ein Anhänger des Generals?«
»Die Umstände bestätigen diese Vermutung.«
»Ich bedaure den armen Mann«, sprach Kaleb.«
»Warum?«, fragte der Fremde rasch. »Haben Sie ihn gekannt?«
»Nein, ich habe ihn nicht gekannt, aber das Volk kenne ich, dessen Sache der General so töricht war, zu verfechten.«
»Der General war ein braver Mann, der von den Soldaten und vom Volk allgemein geachtet und geliebt wurde.«
»Er war, sagen Sie, mein Herr? Ist er im Kampf gefallen, oder hat man ihn heimlich erschossen?«
»Nein, mein Freund«, erwiderte der unbekannte Mann, »noch ist er am Leben; aber er ist gefangen und soll diesen Morgen als Hochverräter vor ein Kriegsgericht gestellt werden.«
»Vor ein Kriegsgericht«, rief Kaleb und schauderte unwillkürlich zusammen. »Man wird nicht wagen, ihn zum Tode zu verurteilen.«
»Und warum?«
»War es nicht der General, der den Pöbel in der verhängnisvollen Zeit durch sein Ansehen im Zaum hielt? War er es nicht, der das Leben und das Eigentum des Bürgers schützte und der Anarchie entgegenwirkte? War er es nicht, der das Ansehen der Gesetze zu erhalten suchte, während der Monarch und seine Minister die Hauptstadt verließen, statt ihre Pflicht zu erfüllen und durch Nachgiebigkeit sowohl als durch Strenge den Frieden wiederherzustellen? Mir scheint, er hat durch das, was man ihm zum Verbrechen anrechnet, mehr der Regierung als dem Volk genützt – ich kann es nicht glauben, dass man ihn zum Tode verurteilt!«
»Aber das Kriegsgericht wird ihn zum Tode verurteilen«, sprach der Fremde, indem er dem Kassierer des Herrn Hubertus näher trat und den Ausdruck seines Gesichtes scharf beobachtete.
»Aber was werden seine Freunde dazu sagen?«, antwortete Kaleb. »Wie man sagt, hat er deren viele, sowohl in den höheren Ständen als unter den Bürgern. Außerdem gehört er auch einer Familie an, deren Angehörige sich seit langer Zeit in der Nähe des Thrones befanden und wichtige Staatsämter bekleideten – sollten diese nichts zu seiner Rettung unternehmen?«
Der Fremde schwieg einen Augenblick und sah den alten Mann prüfend an. Dann antwortete er mit leiser Stimme:
»Man wird etwas zur Rettung des Generals unternehmen; wollen Sie dabei hilfreiche Hand leisten?«
Kaleb fuhr überrascht zurück.
»Wie«, rief er, »ich soll dabei helfen?«
»Sprechen Sie leise, lieber Freund«, sagte der Fremde und sah sich vorsichtig um; »sprechen Sie leise, dass uns niemand hört!«
»Mein Herr«, fragte Kaleb, der sich von seinem Erstaunen nicht erholen konnte, »was kann ich dabei tun?«
»Der General befindet sich als Gefangener in dem Staatsgefängnis, das an Ihre Fabrik grenzt.«
»Ist es möglich!«
»Man weiß, dass ein unterirdischer Gang vorhanden ist, der das Gefängnis mit den Kellern dieses Hauses verbindet. Der Gang ist im letzten Krieg verschüttet worden, er kann aber in wenigen Stunden wieder geöffnet und so als Rettungsweg für den General benutzt werden. Wenn sich nun zwei vertrauensvolle Männer mit einem verabredeten Erkennungszeichen, die sie als von Freunden des Generals ausgesandt kennzeichnen, bei Ihnen einstellten, würden Sie ihnen wohl Zutritt in Ihre Keller gestatten? – Setzen Sie einen Preis auf diesen Dienst, auch wenn er noch so hoch ist.«
»Mein Herr«, antwortete Kaleb, dessen Verwunderung den höchsten Grad erreicht hatte, »ich bin nur ein Diener in diesem Haus; darum ersuche ich Sie, meinem Herrn diesen Vorschlag zu machen. Wenn Sie wollen, werde ich Sie zu ihm führen.«
»Das ist unnütz!«
»Hat Ihnen Herr Hubertus vielleicht schon eine abschlägige Antwort erteilt?«
»Mein Freund«, antwortete der Fremde ausweichend, »halten Sie die Ausführung meines Verlangens für ein Verbrechen?«
»Allerdings«, antwortete Kaleb bestimmt, »denn sie könnte meinem Herrn die strengste Strafe zuziehen. Obgleich ich lebhaften Anteil an dem Geschick des unglücklichen Generals nehme, würde ich mich doch nie entschließen können, ihm das Glück des Herrn Hubertus zu opfern, selbst wenn dies das einzige Mittel wäre, ihn vom Tod zu retten!«
»Ist das Ihr letztes Wort? Wollen Sie nichts tun, um der Welt einen braven Mann zu erhalten, einen Mann, der seinen Lebensretter vielleicht schon in Kürze glänzend belohnen und ehrenvoll auszeichnen kann?«
»Unter den Bedingungen, mein Herr, die Sie mir vorgeschlagen haben, mein letztes Wort; kann ich auf andere Weise nützen, bin ich bereit.«
»Vergessen Sie, dass Sie mich gesehen haben«, sprach der Fremde, wandte dem greisen Kassierer den Rücken zu und schritt eilig über den Platz, auf dem sich nach und nach die Morgendämmerung ausbreitete.
Nachdenkend kehrte Kaleb ins Haus zurück.
9.
Es war schon spät, als Richard aus einem festen Schlaf erwachte. Die Frühsonne, hell und klar, drang durch die Fenster in das Zimmer und blendete mit ihren Strahlen die Augen des noch schlaftrunkenen jungen Mannes. Erstaunt sah er sich um und prüfte eine Zeit lang alle Gegenstände, die sich in dem sauber und wohnlich eingerichteten Gemach befanden. Gewöhnt, den jungen Tag in seinem elenden, kleinen Dachstübchen zu begrüßen, konnte er sich in den ersten Augenblicken von der Wirklichkeit seiner Umgebung nicht überzeugen; er rieb sich die Augen wie ein Kind, das am Christmorgen von dem Glanz des Lichterbaumes geblendet wird und die Herrlichkeiten der Bescherung für einen schönen Traum hält. Unser Freund musste alle seine Sinne sammeln, um den plötzlichen Wechsel seiner Lage erklärlich zu finden und sich zu überzeugen, dass er wach war. Dann sprang er rasch aus dem Bett und kleidete sich an. Statt seiner ärmlichen Kleidung, die er jeden Morgen mit Schmerz betrachtet hatte, fand er einen eleganten, bis in die kleinsten Teile vollständigen Anzug vor, den Franz aus seiner Garderobe schon früh in das Zimmer geschafft hatte, als sein Gast noch in festem Schlaf lag. Dem über diesen neuen Beweis der Großmut seines Lebensretters beschämten Dichter blieb nichts übrig, als von dem Geschenk Gebrauch zu machen, da nicht nur die alten Kleider fehlten, sondern er sich auch erinnerte, dass diese durch die Flussexpedition zerrissen und unbrauchbar geworden waren. Mechanisch legte er ein Stück nach dem anderen an, und als er, ebenfalls mechanisch, vor den hohen Spiegel trat, um seine Toilette zu vollenden, nahm er mit freudiger Überraschung wahr, dass ihm alles passte, als ob es eigens für ihn gearbeitet wäre, denn Franz war von derselben Statur wie er.
In den neuen Kleidern fühlte sich Richard auch wie ein neuer Mensch; er bekam eine ganz andere Meinung vom Leben und hätte sich jetzt schon, da er in einem anständigen