Dunkle Seite - Mangfall ermittelt. Harry Kämmerer
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Fett
‚Ja, leck mich fett!‘, denkt Andrea, als der Chefarzt seine Visite abgeschlossen hat. Mit vier Studenten im Schlepptau hat er doziert über posttraumatische Belastungsstörungen, kognitive Dissoziation oder Stockholm-Syndrom. Stockholm! Ausgerechnet sie! Mit diesem Psychopathen, der Leute vor die U-Bahn schubst, verbindet sie rein gar nichts! Was für ein Psycho-Unfug! Diese Visite hat sie weit zurückgeworfen, nachdem sie heute Morgen eigentlich gut ausgeruht aufgewacht war. Klar, ganz ohne Spuren geht so was an einem nicht vorbei. Die Geiselnahme hat ihr Angst eingeflößt, sie hat sich in die Hose gemacht. Aber das ist ja auch nicht verwunderlich. Sie müsste sich eher Sorgen machen, wenn sie keine Angst gehabt hätte. Aber das war’s dann auch. Paul hat ihr zum Glück frische Wäsche mitgebracht. Jetzt wird sie sich umziehen, nochmal bei Tom vorbeischauen und den Laden hier verlassen.
Hinz
Josef besucht den Generalsekretär der BMB. Er hat mit Dr. Josef Hinz einen Termin vereinbart in seinem Immobilienbüro in der Alpenstraße in Obergiesing. Interessiert betrachtet Josef die Angebote im Schaukasten an der Hausfassade.
„Was suchen Sie denn?“, fragt Hinz, der auf die Straße tritt und sich eine Zigarette anzündet.
„Was Bezahlbares.“
„Das wollen alle. Mieten oder kaufen?“
„Sie scherzen.“
„Wie viel wollen Sie denn ausgeben?“
Josef lächelt. „Hirmer, wir haben telefoniert.“
„Ah, der Herr von der Kriminalpolizei. Schön. Polizisten sind verlässliche Kunden. Suchen Sie wirklich nichts?“
„Nein, zum Glück nicht.“
„Ja, die Wohnungssituation ist sehr angespannt. Leider. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Nicht nur die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts München.“
„Aha?“
„Ungebremste Zuwanderung.“
„Asylanten.“
„Vor allem. Aber lassen Sie uns nicht hier draußen stehen, kommen Sie doch rein. Wir haben eine sehr gute Espressomaschine.“
Als Josef eine Stunde später das Immobilienbüro wieder verlässt, ärgert er sich. Über sich selbst. Er hat sich von dem Typen zutexten lassen, ohne viele Fragen zu stellen. Ein paar sachdienliche Informationen hat er allerdings von Hinz bekommen, allgemein zur Partei, zu Wiesinger eher wenig. Ja, Hinz kennt ihn, ein Parteimitglied der ersten Stunde. Wiesinger sei aber immer seltsam farblos geblieben. „Schrecklich, dieser Unfall“, fand Hinz. „Aber persönlich kann ich nicht viel über ihn sagen. Inzwischen haben die BMB so viele Mitglieder, dass man gar nicht mehr jedes persönlich kennt. Das ist schade, aber eben auch ein klarer Beleg für unseren Erfolg.“ Einem langen Vortrag über die grandiose Entwicklung der einstigen Protestpartei schloss sich eine Tirade auf die unsozialen Verhältnisse in der Großstadt an, in denen die Menschen, die für die Stadt arbeiten, kaum mehr leben könnten.
Josef hatte es sich verkniffen zu fragen, ob Hinz damit auch die türkischen Mitarbeiter bei der Müllabfuhr meinte. Und ob nicht gerade die Immobilienmakler am meisten von der angespannten Lage profitieren. ‚Nein, so einfach kann man solchen Typen nicht begegnen‘, denkt Josef jetzt. ‚Aber egal, wie smart – dieser Hinz ist ein gelackter Anzug-Nazi. Warum hab ich jetzt eigentlich die Unterlagen für diesen neuen Baukomplex in Obergiesing in der Manteltasche?‘
Josef vergegenwärtigt sich das Gespräch nochmal. Ja, Hinz schien im ersten Moment geschockt von Wiesingers Tod, aber gleichzeitig war er auch ganz kühl. So was passiert halt in der Großstadt. Hat er nicht konkret so gesagt, aber ganz offensichtlich gedacht. Nein, Josef glaubt nicht, dass Hinz etwas mit Wiesingers Tod zu tun hat. Solche Leute machen sich die Finger nicht schmutzig. Hinz’ Waffen sind Worte. Aber eins ist schon interessant – trotz aller Teflonbeschichtung hat Josef bei Hinz eine fast schon devote Haltung gegenüber der Ordnungsmacht ausgemacht. Der steht auf Polizei, auf die Sheriffs in der Stadt. Die Einladung zu einer Wahlkampfveranstaltung hat Josef ganz unverbindlich angenommen.
Auch wenn er über Wiesinger kaum etwas erfahren hat, ist ihm jetzt ein bisschen klarer, welche Typen hinter den „Besorgten Münchner Bürgern“ stecken. Keine aufgebrachten Wutbürger, sondern kühl berechnende Geschäftsleute wie dieser Hinz. Für heute ist Josefs Bedarf an politischer Aufklärung jedenfalls gedeckt. Er sieht auf die Uhr. Kurz vor fünf. Nochmal ins Büro lohnt sich nicht. Zumal er jetzt schon im Osten der Stadt ist, nicht weit von zu Hause. Vielleicht macht Yvonne heute auch mal ein bisschen eher Schluss? Er sieht, dass der Blumenladen beim Friedhof noch offen hat. Die machen doch sicher nicht nur Grabgestecke, oder?
Zurückgepfiffen
Andrea geht nach Hause. Endlich! Hoffentlich ist Paul da. Sie hat ihm nicht Bescheid gegeben. Am Ende hätte er versucht ihr auszureden, das Krankenhaus zu verlassen. Sie ist erwachsen, sie hat sich selbst entlassen. Sollen die sich ein anderes Psycho-Opfer suchen. Sie ist Polizistin. Und sie wäre keine geworden, wenn sie zu nahe am Wasser gebaut wäre. Am Nachmittag war sie noch kurz im Präsidium. Josef war nicht da. ‚Bestimmt findet er es nicht so super, dass ich nicht auf die Ärzte höre und mich erst ein paar Tage ausruh‘, denkt sie jetzt. Hat sie ja versucht, aber im Krankenhaus hat sie sich einfach nur elend gefühlt. Tom ist immer noch drin. Erst war er ganz erschrocken, sie auch in der Klinik zu sehen, im Patientenoutfit. Aber dann hat er tatsächlich gemeint, dass das doch schön sei, wenn sie beide … Echt nicht! Zwei Nächte und das war’s für sie.
Dass es Tom nicht schlimmer erwischt hat, ist schon erstaunlich. Nur Prellungen. Wie durch ein Wunder hat ihn keins der Räder der U-Bahn erfasst. Die blauen Flecken im Gesicht sehen eher nach Kneipenschlägerei aus. Ihrer Aufforderung, doch mit ihr gemeinsam das Krankenhaus zu verlassen, ist er nicht gefolgt. Ihr ist schon klar, warum ihn der Chefarzt noch gerne dabehalten will. Weil er mit Tom ein interessantes Anschauungsobjekt hat: das Opfer eines Gewaltverbrechens, das dem Tod ins Auge geschaut hat. Der Chefarzt hat Tom was ins Ohr geblasen von wegen wichtiger Untersuchungsergebnisse, die von großer Relevanz für seine Studien sind. Ja, genau. Und Tom macht ja meistens, was man ihm sagt. Also, wenn es für ihn vernünftig klingt. Und sich selbst zu entlassen, klingt für ihn nicht vernünftig. Sie haben gestritten. Aber sie ist sich sicher: Man kann nicht immer vernünftig sein. Insgeheim bewundert sie Tom aber ein bisschen, weil er eben auch mal die Verantwortung und die Kontrolle abgeben kann. Ja, Tom kann sich in die Hände anderer begeben, ohne gleich misstrauisch zu werden. Egal, sie ist jedenfalls raus aus dieser Krankenhaus-Nummer.
Jetzt also wieder im Dienst. Was ihr die Kollegen gerade berichtet haben, befriedigt sie nicht. Keine erhellenden Infos zu Vinzenz Krämer. ‚Ein stinknormaler Name für einen solchen Psychopathen‘, denkt sie. Leider kann sie selbst nichts zur Aufklärung der Hintergründe und der Motive des U-Bahnschubsers beitragen. Die wenige Zeit, die sie mit ihm zusammen verbracht hat, hat ihr nur gezeigt, dass der Typ einen massiven Dachschaden hatte, ein Stalker war, der sich auf irgendeine Art eine Beziehung mit ihr erhofft hat. Wahnsinn! Und jetzt ist er tot. ‚Gut so!‘, denkt sie und schämt sich nur ein bisschen für diesen Gedanken.
Die Sache mit dem zweiten Opfer erstaunt sie. Ja, das kann kein Zufall sein, dass am Folgetag an der fast gleichen Stelle noch ein Mann überfahren wurde. Und die Geschichte, die ihr die anderen erzählt