Dunkle Seite - Mangfall ermittelt. Harry Kämmerer
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„Hey, komm, da kenn ich dich aber anders. Früher warst du eine glühende Grüne, die für jeden Misthaufen auf die Straße gegangen ist. Und die Polizei war dir damals ziemlich wurscht.“
Sie lacht. „Da hast du ausnahmsweise mal recht.“
Rot und Grün
Tom starrt an die Decke. Scheißkrankenhaus. Die grünen und roten Lämpchen im nächtlichen Zimmer. Grün. Rot. Grün. Rot. So lange schon. Kommt ihm ewig vor. Es geht ihm eigentlich schon ganz gut. Nur Prellungen, eine Platzwunde an der Stirn, ein paar Schürfwunden. Fast schon wieder alles im grünen Bereich. Ein paar weitere Tage wird er aber noch dranhängen. Professor Zauner hat ihn nachdrücklich gebeten, noch etwas zu bleiben für seine Forschungsreihe zu posttraumatischen Belastungsstörungen und ihren physischen Implikationen. Ja, er hat eingewilligt. Denn Zauner hat ja recht. So glimpflich er davongekommen ist, so hat er sich doch noch nie so schwach und verletzlich gefühlt. Psychisch wie physisch. Da ist zweifellos Aufbauarbeit nötig. Da kann er professionelle Hilfe brauchen.
Andrea ist da ganz anders gestrickt. Die hat es kaum zwei Tage hier ausgehalten. Ein paar Tage bleibt er noch. Aber die Zeit dehnt sich endlos hier. Und Andrea ist heute nicht vorbeigekommen, sie hat nicht einmal angerufen. Und er hatte tatsächlich die romantische Vision gehabt, dass sie zusammen ein Zimmer … Was für ein Quatsch!
Jetzt denkt er wieder an den Typen, der ihn vor die U-Bahn gestoßen hat. Der ist jetzt tot. Gute Sache. Tom erschrickt selbst über sein hartes Urteil. So darf man nicht denken, oder? Doch, geschieht ihm recht. Der Typ hat ihn vor den Zug gestürzt und Andrea entführt! Und vorher schon zwei Leute umgebracht. Irgendwer hat ein gutes Werk getan, ihn zu überfahren. Unfall oder Absicht? Josef hat ihm heute am Telefon von einer weiteren Person erzählt, die in der Quiddestraße überfahren wurde. Derselbe Tat-hergang. Wenn man das so nennen kann. Sehr sonderbar. Er selbst interessiert sich vor allem für das erste Opfer. Opfer? Täter! Ein Typ, der Menschen vor die U-Bahn gestoßen hat. Gut, dass der das nicht mehr machen kann. Was wäre passiert, wenn er nicht umgefahren worden wäre? Was hätte der Typ mit Andrea gemacht? Hätte er mit dem Morden aufgehört? Müßig, diese Überlegungen. Jetzt beschäftigen ihn andere Fragen: ‚Warum besucht Andrea mich nicht? Warum ruft sie nicht mal an? Liebt sie mich? Banale Frage. Ist das banal? Nein. Die wichtigsten Dinge im Leben sind banal. Liebt sie mich? Natürlich liebt sie mich! Natürlich?‘
Boh, er kann hier nicht nur tatenlos rumliegen. Er muss dringend an die frische Luft. Nur ein bisschen. Morgen hat ihn Professor Zauner wieder als Anschauungsobjekt für seine Studenten zur Verfügung. Jetzt muss er raus. Sonst dreht er durch. Der Vollmond wirft genug Licht ins Zimmer, dass er kein Licht anmachen muss. Er schlüpft in Trainingsanzug und Turnschuhe, öffnet die Tür und späht in den Gang. Die Stationsschwester verschwindet gerade in einem der Krankenzimmer. Er huscht hinaus auf den Flur und am Glaskasten der Schwester vorbei. Treppenhaus, dann endlose Gänge. Er begegnet ein paar müden Pflegern und Ärzten, die ihm keinerlei Beachtung schenken. Er marschiert durch den Haupteingang und ist draußen.
Der Himmel ist unendlich hoch und unendlich schwarz. Ein paar Sterne. Der Mond ist gerade hinter eine Wolkenbank getaucht und lässt deren Ränder glühen. Ein einzelnes Taxi wartet an der Straße. Einfach einsteigen und damit zu Andrea fahren? Nein. Kann er nicht bringen. Am Ende passt ihr das gar nicht. Außerdem hat er keinen Cent Geld dabei.
Er geht die Englschalkinger Straße stadteinwärts, erreicht den Busbahnhof, die U-Bahn-Station Arabellapark. Auch hier ist nichts los. Er geht in die U-Bahn runter. Sieht auf die Uhr. Halb eins. Das Einfahren des Zugs erschreckt ihn. Keine gute Erinnerung. Egal. Er steigt ein. Ohne Ticket. Um die Uhrzeit kein Thema. Hoffentlich. Sein Abteil ist leer. Böhmerwaldplatz, Prinzregentenplatz – menschenleere Geisterbahnhöfe. Am Max-Weber-Platz steigen ein paar Nachtschwärmer ein. Dann Lehel. Zwei Sicherheitstypen mustern ihn. Aber sie sind am Ende ihrer Schicht. Seine Gedanken schweifen ab, er fühlt sich plötzlich furchtbar müde. Theresienwiese. Endstation. Hier? Klar, nach 20 Uhr muss man in die U5 umsteigen, wenn man nach Laim weiter will. Aber wer will schon nach Laim? Er will zur Schwanthalerhöhe, in Andreas Nähe, zumindest von der Straße aus zu ihrem Fenster hochschauen. Will er das wirklich? Das kommt ihm jetzt ziemlich blöd vor. Er ist kein Stalker.
Tom ist der einzige am Bahnsteig, geht zum Ausgang. Die Rolltreppe spuckt ihn auf die Theresienwiese. Wow, der Himmel voller Sterne. Viel mehr, viel näher als über dem Krankenhaus. So kommt es ihm vor. Auf dem Asphalt kommt ihm ein Licht entgegen, in Schlangenlinien, ein singender Radfahrer. Tom sieht zur Bavaria. Mattglänzend im Scheinwerferlicht. Stolze Herrscherin über ihr dunkles Reich. Er sieht die steifen Schatten der Beduinenzelte. Kein Betrieb mehr. Zeltplanen glänzen silbrig. Der Bauzaun um das Tollwood-Gelände attraktiv wie eine Zahnspange. „Gitterfresse“, wie sie damals auf der Schule sagten.
Die Stadt summt leise. Tom friert in seinem dünnen Jogginganzug. Jetzt wäre der richtige Moment für eine Zigarette – würde er rauchen. Aber er raucht nicht. Andrea schon. Nicht der einzige Unterschied. Ist er ein Langweiler? Vielleicht. Nein, ist er nicht. Und jetzt? Zu Fuß. So weit ist das nicht. Nein, er kann nicht einfach so mitten in der Nacht bei ihr auftauchen. Unmöglich. Ihm ist kalt. Bewegung!
Er geht los. Gelenke knirschen, schmerzen ein wenig. Hat er schon vorhin auf dem Weg zur U-Bahn gemerkt, aber ignoriert. Bestimmt nur eingerostet. Er hat sich kaum bewegt in den letzten Tagen. Es strengt ihn an, aber es tut ihm auch gut. Er geht schneller, verfällt in lockeren Trab. Nicht die Geschwindigkeit, mit der er sonst joggt, aber schneller als Gehen. Definitiv. Er findet seinen Rhythmus, stößt weiße Schwaden aus, kalt ist ihm nicht mehr, sein Herz pocht, seine Lungenflügel fiepen. Er schwebt über die Theresienwiese, von einer Laternenlichtinsel zur anderen, durch dunkle Straßen. Schlachthofviertel, Dreimühlenviertel, an der Isar entlang, am Friedensengel den Berg hoch, die Prinzregentenstraße raus, am Ring nach links.
Schließlich sieht er das blaue U-Bahnschild am Arabellapark. Ein paar Meter noch. Locker läuft er aus. Geht doch. Er ist besser in Form als gedacht. Tom sieht zum Haupteingang der Klinik. Dort stehen zwei rauchende Pfleger. Er wartet, bis sie ausgeraucht haben, und huscht mit ihnen zusammen am Pförtner vorbei. Oben auf seinem Stockwerk ist keine Schwester zu sehen. In seinem Zimmer merkt er, dass der Trainingsanzug komplett durchgeschwitzt ist. Er zieht ihn aus und hängt ihn auf den Balkon. Duscht heiß. Legt sich ins Bett. Fühlt sich wie neugeboren. Wahrscheinlich hat er morgen eine Monstererkältung. Oder gerade nicht. Er schläft sofort ein.
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