Das schöne Fräulein Li. Peter Brock
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ZWEI
EIN ABGERISSENER KNOPF DES WINTERMANTELS wird es sein, denkt Hermann Kappe. So genau hat er auch gar nicht hinschauen wollen. Schließlich hat er an diesem Abend schon genug gequirltes Blut gesehen. Es gab Tote Oma. Allein das kann einen erschaudern lassen. Immer, wenn seine Oma in Wendisch-Rietz solche Topfwurst servierte, hat er den Kasper gespielt, damit er vom Tisch verwiesen wurde. Aber inzwischen ist er fast 34 Jahre alt und isst so etwas ganz gern.
Klara kocht Tote Oma fast so gut wie damals seine Oma. Inzwischen weiß er, dass solche Qualitäten kittend für eine Beziehung wirken können, besonders nach dem zweiten Kind. Er versucht in jüngster Zeit immer öfter, sich das vorzusagen: Sie kocht gut, sie kümmert sich bestens um Margarete und Hartmut, sie ist eine Ordentliche, eine Zuverlässige, eine Liebe. Und das genügt, das reicht, das ist alles, was man will, und alles, was man braucht. Kappe redet sich das krampfhaft ein, morgens beim Zähneputzen und abends beim Gutenachtkuss. Denn etwas in seinem Körper signalisiert ihm, dass es eben nicht mehr so ist. Dass das nicht reicht – nicht mehr.
Früher gab es eine Zeit, da genügte ein Blick, eine Umarmung, und er wusste, Klara, die, nach der sich andere Männer umschauten, ist die Richtige für ihn, der Hauptgewinn.
Aber diese Zeiten sind vorbei. Und wenn das Sich-selbst-gut-Zureden nicht mehr hilft, so helfen doch wenigstens noch immer zwei, drei Flaschen Bötzow – Kappes Lieblingsbier. Schließlich muss es irgendwie weitergehen mit ihm und Klara. Doch an diesem Abend hat er nicht einmal die erste Flasche leeren können, da schellte es schon. Er musste mitkommen. Der Schutzpolizist hat ihm aufgeregt von dem Mord auf der Oberbaumbrücke berichtet. Der Einsatz dulde keinen Aufschub.
Es ist kalt, sehr kalt an diesem 4. Februar, und die Straßenbahn, mit der Kappe so gerne vom Mariannenplatz aus fährt, können sie nicht nehmen, weil sie stillsteht. Die städtischen Arbeiter streiken mal wieder für mehr Lohn. Immerhin verkehrt die Hochbahn noch. Und vom Görlitzer Bahnhof aus ist es ja nur eine Station.
Genau so hat er sich einen gemütlichen Samstagabend vorgestellt: in der Kälte stehen, in die aufgerissenen Augen eines zerbeulten Toten sehen, die Alkoholausdünstungen der umstehenden Zeugen und Schaulustigen einatmen und sich dann auch noch von seinem besserwisserischen Kollegen, diesem schlaksig-großen studierten Ingenieur Dr. Kniehase, das blutige Etwas, von dem er noch immer denkt, dass es ein Wintermantelknopf sei, unter die Nase halten lassen.
«Das könnte ein wichtiger Hinweis sein», mutmaßt Dr. Kniehase.
«Könnte», brummt Kappe. «Könnte aber auch nicht. Könnte auch bloß ein abgerissener Knopf sein.»
«Nein, es ist ein Anhänger aus Jade mit eingraviertem Namen. Sicher gehörte der Tote zu irgendeiner Geheimorganisation.»
«Na, dann lesen Sie mal vor!», entgegnet Kappe, während er Dr. Kniehase dabei beobachtet, wie dieser mit bloßen Fingern das Blut vom Anhänger wischt.
Aber Dr. Kniehase kann die Schrift nicht lesen. Es ist Chinesisch. Oder Japanisch. «Sicher lebte das Opfer im gelben Viertel und war auf dem Heimweg.»
Schlaues Kerlchen, dieser Kniehase, denkt Kappe. Wenn es zehn Uhr abends ist, die Brücke nach Friedrichshain zum Schlesischen Bahnhof führt, wo gut zweihundert chinesische Händler wohnen, und einer von ihnen darauf liegt, mausetot, dann könnte er tatsächlich recht haben. Dann wird der zu Tode Geprügelte seinen Bierdeckel nicht bezahlt haben, dann wird er am Tresen etwas zu frech gewesen oder den weiblichen Rundungen einer Kellnerin zu nah gekommen sein. So etwas passiert eben. Dazu braucht man keine Geheimorganisation.
Aber Dr. Kniehase gibt nicht auf. «Sicher ein Mord zwischen rivalisierenden Chinesen-Banden. Da steckt so was wie die Mafia dahinter.»
Kappe wäre froh, wenn hinter Dr. Kniehases Äußerungen öfter mal etwas stecken würde. Wenn auch einfach nur ein klitzekleines Fünkchen Bescheidenheit. Kappe tritt ein paar Schritte zur Seite, steigt über den Bordstein und geht zu den vier Zeugen, die auf der Fahrbahn vor einem Audi frösteln, der von zwei Schutzpolizisten zwecks Tatortsicherung am Weiterfahren gehindert wird. Wie es sich wohl fährt in so einem neuen 14/50 PS Typ K mit 3,5-Liter-Motor, Vierradbremsen, Kugelschaltung und allem Pipapo, fragt sich Kappe. Viel lieber würde er jetzt mit dem Fahrer plaudern, als sich noch mal von den vier Angetrunkenen anhören zu müssen, was geschehen war. Sie sind nämlich die Einzigen, die gesehen haben wollen, was geschah.
«Aba nur von janz weit weg und nich genau», fährt einer von ihnen Kappe sofort in die Parade.
Der Wortführer, ein großer, dicklicher Mann mit der Gesichtsfarbe eines zu kurz gebackenen Eierkuchens und ebendieser Konsistenz, wiederholt, dass sie gerade aus Heinz’ Schänke am Gröbenufer kamen, als sie sahen, wie ein Mann auf der Brücke auf den Chinesen erst einprügelte und dann, als dieser am Boden lag, auch noch auf ihn eintrat.
«Det dit so een Schlitzooge is, ham wa ja nich jewusst.» Dann habe der Täter sein Opfer vom Pflaster aufgehoben und über die Brüstung in die Spree werfen wollen.
«Aba nich mit uns! Det war denn doch ’n bisschen zu ville», erzählt der Eierkuchen, und die drei nebenstehenden Schiebermützenjungs vom Typ Hungerhaken nicken. «Als er uns jesehn hat, hatta die Beene inne Hände jenommen und is jeloofen.» Aber wie er aussah, der Täter, oder was er anhatte, das wüssten sie nicht mehr.
Kappe schreibt sich die Namen der vier auf, die gegenüber in einem Lagerhaus des Osthafens arbeiten.
Der Anführer heißt Brückmann.
«Klar, wenn der Mord auf ’ner Brücke passiert», murmelt Kappe in seinen wintergrauen Wollschal hinein. «Wir sehen uns morgen früh um zehn im Präsidium», sagt Kappe befehlsmäßig knapp. «Und bis dahin sollte Ihr Gedächtnis ausgeschlafen sein».
«Aber morjen is Sonntach! Da wollt ick mit meena Jrete …», empört sich Brückmann.
Kappe lässt den jungen Stückgutträger, Kistenstapler oder was immer er sein mag, gar nicht erst ausreden. «Jawohl, Sonntag! Hier geht es um Mord und nicht um eine Landpartie!»
Kappe selbst ist am nächsten Morgen auch nicht ausgeschlafen. Er war nämlich auf dem Heimweg noch in seiner Stammkneipe «Zum Löwen» am Heinrichplatz eingekehrt, um sich dort mit seinem Freund Trampe zu treffen.
Dieser führt das Wort am Tresen und lässt sich selbst von Kappes Bierbestellung nur ungern unterbrechen. Er muss agitieren, «Massen bewegen», wie er gerne sagt, schließlich bekommt er sein Geld als Funktionär von den Sozialdemokraten, und da kommt ihm natürlich ein Urteil wie das des Berliner Landgerichts gerade recht, um über Kriegsgewinnler herzuziehen.
Da hat doch tatsächlich einer von diesen Gewinnlern, der erst mit Mehlsäcken, dann mit Korbflaschen, Heeresgerät und zu guter Letzt mit Bouillonwürfeln handelte, Millionen gemacht, sich eine Zwanzigzimmervilla für acht Millionen Reichsmark am Wannsee geleistet und sich sogar die Türgriffe seines Benz-Automobils, so schreibt es das Tageblatt, vergolden lassen. Und nun klagt er vor Gericht, weil ihm ein Geldverleiher, aufs Jahr hochgerechnet, 225 Prozent Zinsen für läppische 37 000 Mark berechnete, die er sich geliehen hatte.
«Geschieht ihm recht, so einem Volksschmarotzer!», erregt sich Trampe. «Unsere Jugend wurde im Krieg