Wirtschaft im Kontext. Oliver Schlaudt

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Wirtschaft im Kontext - Oliver Schlaudt

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aber nicht umgekehrt.

      Die Wirtschaftswissenschaften haben diese Sichtweise nur befördern können, indem sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewusst die Physik zum Vorbild nahmen und ökonomische Prozesse so fassen und erklären wollten, wie die Physik dies mit den ihrigen tut. Die Sozialwissenschaften mussten so fast zwangsläufig als ›schmutzige‹ Physik betrachtet werden – und sogar auch sich selbst so betrachten.

      Kant beobachtet eingangs seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784, dass beispielsweise Eheschließungen und Geburten, »da der freie Wille der Menschen auf sie so großen Einfluß hat, keiner Regel unterworfen zu sein [scheinen], nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen könne,« aber die statistische Erfassung in großen Ländern gleichwohl einen Verlauf dieser kollektiven Größen »nach beständigen Naturgesetzen« enthüllt.1 Hier realisieren sich die sozialen Gesetze im statistischen Schnitt mit derselben Unerbittlichkeit, während sie dem Einzelnen alle Narrenfreiheit lassen.

      Ganz anders erscheint dies bei Karl Marx. An einem Beispiel, auf welches wir noch zurückkommen werden, diskutiert er, dass sich der einzelne Unternehmer in seiner Lohnpolitik nicht gegen den Markt stemmen kann, sondern dazu verurteilt ist, sich den Konkurrenten anzupassen. Hier erscheint es so, dass die sozialen Gesetze gerade dem einzelnen gegenüber unbarmherzig durchgesetzt werden, während eine Gesellschaft als Ganze sich durchaus über sie hinwegsetzen kann. Denn ob es überhaupt einen Markt für Arbeitskraft geben soll, steht der Gesellschaft frei, und Marx optierte bekanntlich für eine andere Lösung.

      Kant fasste die sozialen Gesetze mithin grosso modo als deterministische Makrogesetze, die den Individuen auf der Mikroebene ihre Freiheit lassen, sich aber in der Summe ihrer Handlungen gleichwohl verwirklichen. Marx verstand sie hingegen als Gleichförmigkeiten, die gerade durch selbstregulierende Sanktionsmechanismen auf Mikroebene durchgesetzt werden, während sie auf der Makroebene doch eher als Regeln denn als Gesetze erscheinen, nämlich einen konventionellen, historischen und veränderbaren Charakter offenbaren. In jedem Fall zeigt sich der Unterschied zu den Naturgesetzen, dass die sozialen Gesetze zwar einerseits als Zwangsgesetze auf die Menschen wirken, aber andererseits nur durch sie wirken, wodurch sich ihr Korsett auf der einen oder anderen Ebene zu lockern scheint.

      Da sie diesen Unterschied nur als einen Makel auffassten und am Leitbild der Physik festhielten, schien es den Wissenschaftsphilosophen nicht geboten, eine eigene Theorie der Sozialwissenschaften zu entwickeln. Es reichte, die an der Physik gewonnenen Erkenntnisse einfach auf die Sozialwissenschaften zu übertragen, und insbesondere auch die gewohnten Fragestellungen wieder ins Zentrum zu rücken: Was ist eine Erklärung, was ein Modell, was sind Gesetze und welches ist ihre induktive Basis, welche Rolle spielt die Kausalität dabei usw. usf. (zur Fortführung schlage man das Inhaltsverzeichnis einer beliebigen Einführung in die Wissenschaftstheorie auf). Jede Abweichung der Sozialwissenschaften konnte einfach der mangelnden Perfektion dieser schmutzigen Disziplinen zugeschrieben werden. Dies entspricht in der Tat ziemlich genau der Haltung und dem Selbstbewusstsein, welche die einflussreichen Wissenschaftsphilosophen der Nachkriegszeit gegenüber den Sozialwissenschaften an den Tag legten.

      Ausgerechnet bei diesen Philosophen suchen Kritiker der herrschenden ökonomischen Lehre heute Rat. Dabei stellt die Übertragung von der Physik auf die Sozialwissenschaften eine schwere Hypothek dar. Man kann nämlich erstens schon Zweifel daran hegen, ob die Klassiker der Wissenschaftstheorie an der Physik überhaupt einen adäquaten Begriff von Wissenschaft gewonnen haben. Sie tendierten in der Tat dazu, Wissenschaft auf Theorie zu reduzieren, und in ihren Konzeptionen nahmen dementsprechend die Begriffe von Hypothese und Gesetz eine zentrale Stellung ein. Dieses Bild wurde in den letzten Jahrzehnten ziemlich durcheinander geschüttelt und wich einer Auffassung, welche den praktischen, lokalen und historischen Zügen der Forschung viel mehr Raum gibt, zugleich aber auch in der Abgrenzung von Wissenschaft gegen Nicht-Wissenschaft vorsichtiger ist. Dies ist ein ziemlich triftiger Aspekt, insofern die Kritiker der Wirtschaftswissenschaften diese oft an einem starken normativen Wissenschaftsideal messen, welches seinerseits einem unrealistischen und bisweilen etwas kitschigen Bild von der Physik entstammt. Demgegenüber ist es ein Anliegen dieses Buchs, mit realistischeren und behutsameren wissenschaftstheoretischen Annahmen zu arbeiten.

      Im gleichen Zuge, wie sich das Bild der physikalischen Forschung wandelte, wurde aber auch zweitens deutlich, dass die Physik mitnichten die Fundamentalwissenschaft sein muss, für die sie gehalten wurde. Dass jeder soziale oder biologische Prozess auch immer ein physischer ist, verbürgt nicht logisch, dass er in letzter Instanz auch allein durch seine physischen Eigenschaften erklärt werden kann. Es war dies lediglich ein Versprechen. Im bis heute einflussreichen Wiener Kreis beispielsweise ist es in der Behauptung verkörpert, die physikalische Sprache sei die Universalsprache. Dieses Versprechen wurde allerdings niemals eingelöst.

      Die großen Methodendebatten, einst und heute

      Wissenschaftsphilosophen – und viel mehr noch -historiker – sind heute geneigter, eine Vielheit der Wissenschaften zu akzeptieren, deren jede einzelne beanspruchen darf, für sich und in ihren Eigenheiten erfasst zu werden. Für die Sozialwissenschaften gibt es dazu sogar in der deutschsprachigen Literatur im Prinzip eine historische Blaupause, denn diese Wissenschaften haben in ihrer Entwicklung einige große Methodendebatten erlebt, die einen Zugang zu ihrer Spezifik in Aussicht stellen:

      – Die als Historismusstreit in der deutschen Nationalökonomie bekannte Auseinandersetzung zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller in den 1880er Jahren über die Bedeutung einer genuin historischen Methode für die Erforschung des Wirtschaftsprozesses;

      – der um 1900 zwischen Schmoller und diesmal Max Weber ausgetragene Werturteilsstreit über die Frage, ob sozialwissenschaftliche Forschung gesellschaftspolitische Maßnahmen zu rechtfertigen vermag;

      – der zwischen Theodor W. Adorno und Karl Popper Mitte der 1960er Jahre vielmehr inszenierte als ausgetragene Positivismusstreit über die Interpretation empirischer Daten, in welchem die Grundfragen des Werturteilsstreit über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt wieder aufgenommen wurden;

      – endlich müsste man auch den Individualismusstreit darüber nennen, ob sich die Eigenschaften der Gesellschaft durch die der Individuen erklären lassen oder vielmehr umgekehrt. Dieser Streit, obgleich schon im 18. Jahrhundert mit Jean-Jacques Rousseaus Kritik an Thomas Hobbes virulent, schwelte allerdings immer nur, ohne je zu einem Aufsehen erregenden Eklat zu kommen.

      Aber selbst die jüngste dieser Debatten datiert Jahrzehnte zurück und fällt somit weit vor das Auftauchen der einzelnen Facetten jener allmählich Gestalt annehmenden multiplen Krise, die die Wirtschaftswissenschaften heute auch für ein allgemeineres Publikum interessant machen. Die Wirtschaftswissenschaften sehen allerdings auch heute eine lebhafte Methodendiskussion. Diese Diskussion, die nun nahezu ausschließlich in der englischen Sprache geführt wird, hat – soviel sei zugestanden – im Grunde den Problemkreis der vier alten großen Debatten nicht verlassen. Gleichwohl präsentiert sie die alten Probleme befreit vom Staub der vergangenen Jahrzehnte.

      Außenstehende, die ein gewisses Grundvertrauen in die Wissenschaften haben, mögen gar erstaunt sein über den harschen Ton der heutigen Kritik, welche nicht einzelne Hypothesen, sondern im Grunde die Gesamtheit

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