Wirtschaft im Kontext. Oliver Schlaudt

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erklärt wird, welches selbst zumindest zeitweilig ohne Erklärung hingenommen wird. Wie Immanuel Kant schon herausgearbeitet hat, ist es dem Projekt der wissenschaftlichen Erklärung inhärent, auf einen infiniten Regress zu führen, insofern das x, welches man zur Erklärung von y heranzog, selbst nach Erklärung verlangt. Mit diesem Problem hat jede Wissenschaft zu tun, und man darf die Wirtschaftswissenschaft selbstredend nicht an einem Maßstab messen, dem auch die Physik nicht genügt. Jede Wissenschaft muss zu jedem Zeitpunkt mit gewissen Voraussetzungen beginnen. Diese können sich freilich mit der Zeit ändern, und es bleibt in der Methodenkontroverse immer eine legitime Frage, was eigentlich wodurch erklärt werden soll, sofern nur alle Kontrahenten akzeptieren, dass es keine voraussetzungslose Erklärung gibt.

      Das klassische Erklärungsmodell der Physik besteht in einem bestimmten Reduktionismus: Die Eigenschaften eines Systems werden durch die seiner Teile erklärt und in diesem Sinne auf diese zurückgeführt, niemals aber umgekehrt. Die Eigenschaften des Festkörpers und der Moleküle erklärt die Physik durch die Eigenschaften der Atome und diese durch die ihrer Bestandteile, der Elektronen und des Atomkerns. Die Elektronen gelten als Elementarteilchen, während der Atomkern wiederum eine Struktur aufweist und aus Protonen und Neutronen besteht usw.

      Ein Problem war diesem ›mechanistischen‹ Denken schon früh, namentlich im 18. Jahrhundert, durch den Organismus gegeben, bei dem sich die Verhältnisse gerade umgekehrt darzustellen scheinen: Seine Organe sind für den Organismus zweckdienlich eingerichtet. Hier scheint es so, als ob durch das System, das Lebewesen, bestimmt ist, welche Eigenschaften seine Teile haben müssen und diese somit ›holistisch‹, durch das Ganze, welches die Teile bilden, erklärt werden.18 Es war die große Leistung von Darwins Evolutionstheorie, die Mechanismen zu benennen, die die Zweckmäßigkeit der Teile erklären können, ohne einen Zwecksetzter in Person des Schöpfergottes bemühen zu müssen.

      In der Sozialphilosophie existieren widerstreitende Ansichten über das Verhältnis von System (Gesellschaft) und Teil (Individuum). Es steht außerfrage, dass eine Gesellschaft nur durch und mit den Individuen besteht. Man sollte sich aber klar machen, dass damit die Frage der Richtung der Erklärung noch nicht beantwortet ist. Historisch lässt sich grosso modo folgendes feststellen: In der präkapitalistischen Sozialphilosophie, z. B. bei Thomas von Aquin, herrscht eine holistische Erklärungsweise vor, wobei durchaus der Organismus als Analogie herangezogen wird: Die Menschen sind unterschiedlich, und jeder hat seinen besonderen Platz im Ganzen. Überlebensfähig ist nur der ganze Gesellschaftskörper, aber keiner seiner spezialisierten Teile außerhalb seiner. In der Epoche des Kapitalismus ändert sich dies. Die Sozialphilosophie übernimmt die reduktionistische Methode der Naturphilosophie,19 und ihr Gesellschaftsbild passt sich gut in die liberale Weltanschauung des aufstrebenden Bürgertums ein: Die Gesellschaft ist kein hierarchisch strukturiertes Geschöpf mehr mit göttlich sanktioniertem Haupt, sondern resultiert aus den Bewegungen und Wechselwirkungen der einzelnen, freien und gleichen Individuen. Spätestens mit dem 19. Jahrhundert lebt auch wieder die holistische Erklärungsweise auf, zu nennen sind vor allem Karl Marx und Émile Durkheim, die zwar weit davon entfernt sind, eine natürliche Hierarchie der Individuen zu proklamieren, aber durchaus in einem noch zu spezifizierenden Sinne von einem Eigenleben der Gesellschaft ausgehen, welches sich gegen die einzelnen Individuen durchsetzen kann. Die Sozialwissenschaften sind seitdem über diese Frage um den methodologischen Individualismus gespalten.

      2.2.2 Der homo œconomicus

      Die als Neoklassik bekannte allgemeine Gleichgewichtstheorie der Mikroökonomie steht unzweideutig in der individualistischen Tradition, d. h. sie sucht gesellschaftliche Phänome als Gesamtresultat der Entscheidungen individueller Akteure zu erklären. Die Entscheidungen der Akteure werden wiederum auf eine individuelle Präferenzordnung zurückgeführt. Diese selbst wird unterstellt, aber nicht mehr selbst erklärt. Die Ökonomie betrachtet sie als eine sogenannte exogene Variable:

      1 die Präferenzen sind exogen.

      Sodann werden eine Reihe weiterer Unterstellungen über den ökonomischen Akteur gemacht, welche in dem Bild des homo œconomicus zusammengefasst werden. Er ist charakterisiert durch zwei Merkmale, zusammengefasst im Rationalitäts-Axiom:

      2. der homo œconomicus strebt nach Maximierung seines Nutzens oder Wohlergehens;

      3. sein Verhalten ist rational.

      Rationalität des Verhaltens bedeutet im Wesentlichen, dass der Akteur angesichts zweier Alternativen immer eine Präferenz hat (Postulat der Vollständigkeit) und dass seine Präferenzen konsistent sind, insbesondere seine Präferenzordnung transitiv ist: Zieht er A der Alternative B und diese C vor, so zieht er auch AC vor. »Rational« heißt insbesondere also nicht, dass der Akteur mit Bedacht und aufgrund von Überlegungen handelt, sondern nur, dass sein – durchaus spontanes, durch die Präferenzen diktiertes – Verhalten von außen als rational im Sinne der genannten formalen Kriterien beurteilt wird.

      Wir sollten an dieser Stelle schon festhalten, dass der Zusammenhang zwischen Präferenz, Verhalten und Nutzen ein rein analytischer, denn begrifflicher ist, also keinen empirischen Teil der Theorie ausmacht: eine gegebene Präferenz führt unter gegebenen Umständen zu einem bestimmten Verhalten, welches ein bestimmtes Wohlergehen zur Folge hat – per definitionem, nicht erfahrungsgemäß.20 In der Tat stellt das Verhalten die einzige direkt beobachtbare Größe dar, während die Begriffe der Präferenz und des Nutzens allein dem Theoretisieren über das Verhalten angehören. Wir werden auf diesen Zusammenhang in Kapitel 3 zurückkommen.

      Bei dieser Gelegenheit drängt sich eine weitere wichtige Präzisierung auf. Es wird oft behauptet, der homo œconomicus sei egoistisch. Es ist wichtig, in dieser Frage sehr genau zu sein, da hier oftmals die Kritik ansetzt, die den Menschen freundlicher glaubt (siehe dazu wiederum Kapitel 3). Demgegenüber sollten wir gleich an dieser Stelle zweierlei betonen: Erstens ist das Prinzip der Entscheidung nach individuellen Präferenzen und zwecks Nutzenmaximierung schon deswegen nicht – oder nur in einem trivialen Sinne – gleichbedeutend mit einem egoistischen Akteur, da es, wie wir gerade betonten, keine empirische Behauptung über den Akteur zum Ausdruck bringen kann, sondern einfach aus den Definitionen folgt. Aber selbst wenn die Präferenzordnung des Individuums, wie es bisweilen geschieht, durch die zusätzliche Forderung eingeschränkt wird, dass seine Präferenzen und der aus den Gütern resultierende Nutzen nicht vom Kontext abhängen dürfen, insbesondre also nicht von der die übrigen Individuen betreffenden Distribution von Gütern, –

      4. Unabhängigkeit: die Präferenzen des homo œconomicus sind von anderen Individuen unbeeinflusst.

      – selbst dann haben wir es zweitens nicht im eigentlichen Wortsinn mit einem egoistischen Akteur zu tun. Es wird zwar oft die uneigennützige Handlung, sei es aus Mitleid oder ethischer Pflicht, als Gegenbeispiel herangezogen. Aber dem so beschränkten homo œconomicus sind Handlungen aus Antipathie oder schlechter Gesinnung ebenso fremd. Der homo œconomicus teilt nicht nur nicht, er kennt auch keinen Neid noch Ranküne, welche einem Egoisten doch im Allgemeinen freistehen. Richtiger ist es mithin, von einem selbstbezogenen Akteur (self-regarding statt selfish) zu sprechen, der seiner Mitmenschen und seiner Umwelt ungeachtet der Maxime der Nutzenmaximierung folgt.21

      2.2.3 Nutzen und subjektiver Wertbegriff

      Die Nutzenmaximierung ist eine zugleich subtile und vollkommen platte Forderung an den homo œconomicus. Letzteres, weil sie sich in der ökonomisch relevanten Situation der Distribution von Gütern in ein einfaches »mehr ist mehr« übersetzt:

      5. Nicht-Sättigungsannahme: Größerer Konsum bringt dem

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