Wirtschaft im Kontext. Oliver Schlaudt
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Steht also alles zum Besten in der besten aller Welten? Tatsächlich hat die neoklassische Produktionstheorie ernstzunehmende Defekte, deren Konsequenzen über die Neoklassik beredt Auskunft geben. Als erstes wird man feststellen, dass als Produktionsfaktoren nur Maschinen und Arbeitskraft in Betracht gezogen werden, Land, Rohstoffe und Energie aber gänzlich fehlen. Über die Gründe lässt sich spekulieren. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Jason W. Moore sieht in dem Umschwung von einer auf der Produktivität des Landes beruhenden Reichtumsmatrix zu einer solchen, die in der Produktivität der menschlichen Arbeit gründet, den historischen Epochenwandel hin zum kapitalistischen Zeitalter abgebildet. Arbeit ist nun die Quelle des Werts und die Natur zu einer Ressource herabgestuft (näheres zu Moores Ansatz ↓ S. 171).27 Andere Autoren verweisen auf die Tatsache, dass sich die Grenzproduktivität in den Preisen widerspiegelt und die niedrigen Preise für Rohstoffe und Energie im 20. Jahrhundert, als die neoklassische Produktionstheorie formuliert wurde, als ein Hinweis auf die geringe Bedeutung dieser Faktoren aufgefasst wurde. Der Anteil der Energiekosten an den Produktionskosten liegt in der Tat nur bei etwa 5 - 6 %, was aber schlicht daran liegt, dass sogar endliche Ressourcen billig zu haben sind.28 Ein dritter möglicher Grund für die Vernachlässigung kann darin liegen, dass der Zweck der Produktionstheorie wie eben berichtet letztlich die Rechtfertigung der Einkommensverhältnisse durch objektive Faktoren ist, und die Natur (Land, Rohstoffe, Energie) zwar als Produktionsfaktor auftreten mag, aber nicht bei der Verteilung des Profits zu berücksichtigen ist. Wie dem auch sei, in jedem Fall ist der neoklassischen Produktionstheorie damit ein ökologisches Defizit eingeschrieben.
Die Vernachlässigung des Produktionsfaktors Land hat zweitens aber auch unmittelbare und fatale technische Konsequenzen. Es stimmt selbstverständlich, dass zu verschiedenen historischen Zeitpunkten mit verschiedenem technischem Entwicklungsstand Kapital und Arbeit unterschiedlichen Anteil an der Produktion haben (mit dem technischen Fortschritt und dem Einsatz hochentwickelter Maschinen steigt der Kapitalfaktor). Zur Analyse eines solchen historischen Wandels ist die neoklassische Produktionstheorie in ihrer Eigenschaft als Theorie eines fixen Gleichgewichts nun prinzipiell nicht geeignet.29 Betrachten wir hingegen einen gegebenen Zeitpunkt, so kann umgekehrt das Verhältnis der Faktoren Arbeit und Kapital nicht frei gewählt werden, wie es der Formalismus der neoklassischen Produktionstheorie aber in der Produktionsfunktion F (K(L) unterstellt. Für die Landwirtschaft mit Boden als regenerativer Ressource mag noch stimmen, dass der Einsatz von Maschinen und Handarbeit recht frei variiert werden können. Aber gerade für die Industrieproduktion, auf welche sich die Neoklassik fixiert, indem sie den Faktor Land fallen lässt, stimmt dies ironischerweise nicht mehr. Denn hier ist das Verhältnis von Maschine und Arbeit, also die Zahl der Arbeiter an einer bestimmten Maschine, durch die Organisation der Fabrik fest vorgegeben. Es sind mithin die Voraussetzungen gar nicht erfüllt, um überhaupt ein Grenzprodukt zu definieren, womit die neoklassische Lohntheorie in sich zusammenfällt.30 Richtiger ist es vermutlich, die ganze Gleichgewichtsannahme aufzugeben und das Verhältnis der Produktionsfaktoren als empirische Charakteristik der eingesetzten Produktionstechnik zu betrachten.31
2.2.7 Pareto-Prinzip und soziales Wohl
Wir werden im folgenden Kapitel weitere Kritik am Konzept des Pareto-Optimums kennenlernen. Dazu ist es aber wichtig, zu verstehen, dass seine Formulierung zu seiner Zeit durchaus auf ein theoretisches Problem antwortete und insofern einen Fortschritt bedeutete.
Wir sahen schon, dass ein zentraler Begriff der Neoklassik der des Nutzens ist. Damit weist die Neoklassik auf den englischen Utilitarismus zurück, welcher im Nutzen auch den Schlüssel zu normativen Fragen der Ethik sah, die durch Kalkulation des Nutzens beantwortet werden sollten (utility calculus). Hat man es nun mit mehreren Individuen zu tun, können sich allerdings Probleme einstellen. Stiehlt der Verhungernde dem Satten ein Brot, wiegt dann nicht sein Gewinn den geringen Verlust des anderen auf? Man ist versucht, dies zu bejahen. Aber dazu müsste man den Gewinn des einen mit dem Verlust des anderen vergleichen können. Just dies ist durch den subjektiven Nutzenbegriff ausgeschlossen, da dieser keinen intersubjektiven Maßstab kennt. Intersubjektive Nutzenvergleiche sind prinzipiell ausgeschlossen, wie die Ökonomen bald feststellten.32 Es ist keine Überraschung, dass man im Rahmen eines streng individualistischen Ansatzes in Schwierigkeiten gerät, sobald man es mit kollektiven Größen wie dem Gesamtnutzen zu tun hat.
Hier kommt das Pareto-Prinzip ins Spiel. Es erlaubt nämlich durchaus, diese Klippe zu umschiffen und von einem Optimum für ein Kollektiv zu sprechen, ohne sich auf ein Maß des kollektiven Wohls beziehen zu müssen. Zwar kann man in einer Situation, in welcher ein Individuum sich verbessert, während ein anderes sich verschlechtert, prinzipiell nicht bestimmen, ob der Nutzengewinn des einen den Verlust des anderen überwiegt und so zu einem höheren Gesamtwohl führt. Verbessert sich jedoch einer, ohne dass sich ein anderer verschlechtert, so lässt sich diese Frage gleichwohl bejahen, und wenn eine Situation erreicht ist, in welcher sich niemand mehr weiter verbessern kann, ohne dass sich ein anderer verschlechtert, ist in diesem Sinne ein Optimum erreicht.
Für viele volkswirtschaftliche Anwendungen ist das Pareto-Prinzip freilich in einer weniger restriktiven Formulierung maßgeblich. Betrachten wir dazu das Beispiel, an welchem diese Fragen ursprünglich diskutiert wurden, was auch deshalb interessant ist, weil es uns zugleich an den ursprünglichen Kontext der Diskussion erinnert, nämlich die Frage nach dem Freihandel: Die Aufhebung der Korngesetze 1846, welche die britische Landwirtschaft schützen sollten, hatte einerseits zur Folge, dass der Kornpreis sank, die gesamte Bevölkerung also für den selben Betrag eine höhere Menge Korn erstehen konnte, sprich derselbe Lohn einem höheren Realeinkommen entsprach, führte andererseits aber auch zu einer Einkommensverschiebung, in diesem Fall zuungunsten des Landadels, der unter dem Druck der ausländischen Konkurrenz nun sein Korn zu geringerem Preis verkaufen musste. Wie sieht die utilitaristische Gesamtbilanz aus? Wir stehen wieder vor dem Problem, den eventuellen Nutzenverlust der einen gegen den Gewinn der anderen verrechnen zu müssen, was nicht möglich ist. Andererseits haben wir es lediglich mit Geldmengen zu tun, die vom Staat durch neue Steuern und Kompensationszahlungen wieder umverteilt werden können. Und so lässt sich – zumindest im Prinzip – dennoch feststellen, ob eine Reform von positivem Gesamtnutzen ist: genau dann nämlich, wenn nach Entschädigung des Benachteiligten die Bevorzugten noch einen Nettogewinn zu verbuchen haben.
Diese Überlegung, die erstmalig von Nicholas Kaldor und John R. Hicks angestellt wurde, wartet allerdings noch mit einer – wie manche meinen: zynischen – Pointe auf. Die beiden Ökonomen sind sich nämlich darin einig, dass die Frage, ob die Entschädigung auch gezahlt werden solle, eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit sei, zu welcher die Ökonomen als Wissenschaftler nichts zu sagen haben.33 Sie klammerten diesen Aspekt daher aus und betrachteten nur den »potentiellen« Fall. Eine Reform ist nach diesem sogenannten Kaldor-Hicks-Kriterium also auch dann zu begrüßen, wenn sie nur eine potentielle Pareto-Verbesserung bewirkt, diese also theoretisch möglich ist, auch wenn de facto Gewinn und Verlust höchst ungleich verteilt werden und gegebenenfalls eine gesellschaftliche Ungleichheit noch verstärken.
Diese Verallgemeinerung des Pareto-Prinzips ist von enormer Bedeutung. Sie erlaubt es den Ökonomen, Fragen der Effizienz von denen der Verteilung zu trennen. Damit ist die Möglichkeit gewonnen, nüchtern eine Kosten-Nutzen-Analyse vorzunehmen, ohne auf Fragen der Gerechtigkeit eingehen zu müssen. Solche Analysen bilden die Grundlage für wirtschaftspolitische Empfehlungen durch die Ökonomen (economic policy). Die Abkopplung von Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen macht dabei die Objektivität – im Sinne von Wertfreiheit – dieser Empfehlungen aus.34 Diese Auffassung