Wirtschaft im Kontext. Oliver Schlaudt

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Wirtschaft im Kontext - Oliver Schlaudt

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Schranken, die dem Programm, welches anfangs allein als Verheißung und Erfolgsgarantie erscheinen konnte, sehr wohl eingeschrieben waren. Der ›mechanistisch‹ aufgefasste Wirtschaftsprozess, wie ihn die Neoklassik vorstellt, ist gekennzeichnet durch folgende drei Eigenschaften:

      1 Autonomie: keine Abhängigkeiten;

      2 Reversibilität: keine Geschichte;

      3 Unendlichkeit: keine Grenzen.

      Mit diesen Schlagworten ist genauer folgendes gemeint:

      2.3.1 Autonomie

      Unter Autonomie sind zwei Besonderheiten zu verstehen. Erstens ist der Wirtschaftsprozess ein autonomer Subprozess des gesellschaftlichen Gesamtgeschehens, d. h. er kann allein durch das ökonomische Eigenschaftsspektrum des homo œconomicus erklärt werden und es gibt keine Abhängigkeiten zu anderen sozialen Teilprozessen wie Kultur, Religion, Politik. Zweitens kann und wird es in der wirklichen Welt zwar zahlreiche Interferenzen mit anderen gesellschaftlichen Subprozessen geben, aber diese sind Störungen in dem anspruchsvollen Sinne, dass sie die Markteffizienz verringern, also zu einem Zustand führen, der nicht Pareto-optimal ist. Diese Autonomie des wirtschaftlichen Prozesses ist insbesondere auch bestimmend für das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften im Verhältnis zu den anderen Sozialwissenschaften. Wir können sagen, dass sie eine Sozialwissenschaft wider Willen sind.

      2.3.2 Reversibilität

      Diese Eigenschaft ist aus der Mechanik bekannt: mechanische Systeme verhalten sich – abstrakt ausgedrückt – symmetrisch unter Zeitumkehr. Konkret gesprochen heißt dies, dass der zeitlich umgekehrte Ablauf eines gegebenen rein-mechanischen Vorgangs den Gesetzen der Mechanik ebenfalls entspricht. Lässt man die Filmaufzeichnung eines Stoßes zweier Billiardkugeln oder eines schwingenden Pendels rückwärts ablaufen, so zeigt sie ein nach den Gesetzen der Mechanik zulässiges Geschehen. (Man beachte, dass Reibungsverluste, die die Zeitsymmetrie in der Tat verletzen, indem z. B. die Pendelschwingung allmählich zum Erliegen kommt, keine rein-mechanischen Vorgänge sind, da dabei mechanische Energie in Wärme umgesetzt wird.) Und Gleiches gilt in der Tat auch für den Wirtschaftsprozess, wie ihn die Mikroökonomie auffasst. Jeder Tausch beispielsweise ist auch in umgekehrter Richtung denkbar. (Dass dies den Präferenzen der Akteure zuwiderläuft ist kein Einwand, da die Präferenzen ja allein aus dem ökonomischen Verhalten bekannt sind, sprich aufgrund des rückwärts laufenden Films würde man auf andere Präferenzen schließen.)

      Diese Eigenschaft ist, was wir noch eingehender zu diskutieren haben werden, mit der grundsätzlichen Erfahrung der Gerichtetheit der Zeit unverträglich. Aber auch grundlegende ökonomische Phänomene wie der Zusammenhang von Verschuldung und Profit sind mit der Zeitsymmetrie nicht vereinbar. Schulden werden mit Blick auf zukünftige Gewinne gewährt sowohl als auch aufgenommen.46 Für den Augenblick behalten wir vor allem die methodologische Konsequenz der Reversibilität zurück, dass alle Geschichte aus dem rein-ökonomischen Prozess ausgeschlossen und somit auch jeder historische Ansatz in der Wirtschaftswissenschaft disqualifiziert ist. Die Welt des Gleichgewichts kennt keine Geschichte, da jede Störung des Gleichgewichts Kräfte mobilisiert, die das System wieder ins Gleichgewicht rücken, so wie eine angestoßene Kugel immer wieder zum tiefsten Punkt einer Schale zurückfinden wird. Eine relevante Geschichte – um dieses Fenster schon zu öffnen – könnte beispielsweise über das Konzept der Pfadabhängigkeit gedacht werden, wonach vorgängige Entscheidungen auch dann noch unsere aktuellen Handlungsspielräume beeinflussen, wenn sie unter Umständen getroffen werden, die heute nicht mehr relevant sind.47

      2.3.3 Unendlichkeit

      Ein rein mechanischer Prozess, in welchem der Energieinhalt zwischen den Formen potentieller und kinetischer Energie frei hin- und her flutet, kennt keine innere Grenze, an welcher er zum Erliegen kommen könnte, und gleiches gilt für den ökonomischen Prozess in der neoklassischen Vorstellung. Im Grunde ist dies eine direkte Folge der Autonomie und der Reversibilität. Aber es lohnt sich gleichwohl, die Unendlichkeit gesondert hervorzuheben, weil sie im Hintergrund von enormer Wirkmacht im ökonomischen Ideenkosmos ist: Die Wirtschaft ist ein sich selbst erhaltender Prozess im geschichtslosen Gleichgewicht, der sich immerdar erhalten wird. Die Bedeutung dieser Idee kann man daran ablesen, dass sie selbst dann, wenn mit dem Wachstum eine zeitlich gerichtete Größe eine zentrale Stellung einnimmt, in ihrer Macht ungebrochen ist, obgleich doch selbst die geringste konstante Wachstumsrate zu einem exponentiellen Wachstum führt, wie die Wachstumskritiker beständig unterstreichen. Die Natur wird als eine beständig fließende Quelle betrachtet, die den Wirtschaftsprozess alimentieren kann, ohne selbst eine Änderung zu erleiden. Und wo die Endlichkeit der Ressourcen sich doch drängend geltend macht, setzen die Ökonomen auf technischen Fortschritt, Erhöhung der Energieeffizienz, und Ersetzbarkeit (Substituierbarkeit) der knappen Ressource durch andere Stoffe.

      2.3.4 Das ›System‹ Wirtschaft

      Wenn wir hier somit behaupten, die Neoklassik verstehe den Wirtschaftsprozess als einen autonomen, reversiblen und unbegrenzten Vorgang, so soll damit freilich nicht gesagt sein, dass die Ökonomen dies nicht besser wissen. Der springende Punkt aber ist, dass, selbst wenn sie als Personen durchaus die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Biosphäre anerkennen, sie als Ökonomen keine Sprache haben, um dies auszudrücken. Das System Wirtschaft erscheint als autonom, reversibel und unbegrenzt, aber unter »System« ist kein Gebilde von kausaler, räumlicher oder funktionaler Einheit zu verstehen. »System« bezeichnet hier vielmehr die Gesamtheit dessen, was sich durch eine bestimmte Sprache beschreiben lässt. Neoklassische Ökonomie spricht nur über Werte und Preise. Wir können mit Luhmann sagen, dass durch das Medium des Geldes und den entsprechenden binären Code »to pay or not to pay« das geschlossene, zirkuläre und selbstbezügliche Universum der Ökonomie konstituiert wird.48 Wenn wir also sagen, die Wirtschaftswissenschaftler stellen sich die Wirtschaft als autonomen, reversiblen und unbegrenzten Prozess vor, so beschreiben wir damit kein psychologisches Phänomen, sondern ein epistemologisches. Wir benennen das Bild, welches ihren Begriffen eingeschrieben ist. Wir benennen nicht, was sie glauben, sondern was sie sagen können.

      2.4.1 Die ›Astronomie der Warenbewegungen‹

      Es zeichnet sich damit schon eine Diagnose ab, die sich noch weiter erhärten wird und die wir in der Feststellung zusammenfassen können, dass die Wirtschaftswissenschaften den merkwürdigen Status einer Sozialwissenschaft wider Willen innehaben. Sie sind einerseits fraglos eine Sozialwissenschaft, da ihr Gegenstand ein gesellschaftlicher ist, sogar der wesentlichste im materiellen Lebensprozess der Gesellschaften. Zugleich aber konzeptualisieren sie den Wirtschaftsprozess als ein mechanisches System, eine Art »Astronomie der Warenbewegungen«49, in welcher soziale Phänomene keinen Platz mehr haben. Dies geht so weit, dass im Grunde in der Gleichgewichtstheorie der Neoklassik eigentlich auch der Markt und das Privateigentum keine Rolle spielen. Sie kennt in ihrer Reinform (ohne die implementierte Spieltheorie) weder Wettbewerb noch strategisches Verhalten, da die Akteure sich niemals treffen und sich auch nicht füreinander interessieren, sondern stumm den Trajektorien ihrer Nutzenmaximierung im Schwerefeld der Güterverteilung folgen. Dies führte zu der verblüffenden Situation, dass diese Theorie, die, wie wir sahen, auch an den Freihandel geknüpft war und diesem eine wissenschaftliche Rechtfertigung beibringen sollte, in den 1930er Jahren problemlos als eine Theorie der Allokation in einer Planwirtschaft gelesen werden konnte.50

      2.4.2 Ökonomische Gesetze

      Den merkwürdigen Status der Wirtschaftswissenschaften überhaupt und der Neoklassik im besonderen kann man sich gut am Begriff des Gesetzes verdeutlichen. Ob

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