Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Daniel Siegel

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Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen - Daniel Siegel Mit Kindern wachsen

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ein Bedürfnis zum Erzählen von Geschichten zu verfügen.

      • Geschichten erfordern einen logischen Ablauf von Ereignissen, aber sie spielen auch eine wichtige Rolle für das Regulieren von Gefühlen; so sind sie ein gutes Beispiel dafür, wie Emotionen und analytisches Denken ineinander verflochten sind.

      • Geschichten spielen sowohl für die alltägliche Kommunikation als auch für das innere Selbstbild eine Rolle. Diese Mischung aus Zwischenmenschlichem und Persönlichem, die so charakteristisch für den menschlichen Geist ist, zeigt, wie sozial wir tatsächlich sind!

      • Geschichten spielen möglicherweise eine entscheidende Rolle bei Erinnerungsprozessen – eine Annahme, die aus der Untersuchung des expliziten Gedächtnisses resultiert und daraus, wie es in der Endverarbeitung durch Träume permanente oder „kortikal konsolidierte“ Erinnerungen erzeugt.

      • Geschichten werden mit Gehirnfunktionen in Zusammenhang gebracht. Besonders die linke Hemisphäre scheint darauf ausgerichtet zu sein, Vermutungen über logische Zusammenhänge zwischen verschiedensten Teilen von Informationen anzustellen, während die rechte Hemisphäre den emotionalen Kontext und die autobiografischen Daten beisteuert, die notwendig sind, damit eine Lebensgeschichte einen Sinn ergibt.

      Mentale Modelle: Wie unsere Erfahrung bestimmt, wie wir sehen, uns verhalten und unsere eigene Realität erschaffen

      Die Wissenschaft hat gezeigt, dass das Gehirn selbst schon bei ganz kleinen Kindern aus wiederholten Erfahrungen sehr gut Verallgemeinerungen ableiten kann, so genannte mentale Modelle. Diese mentalen Modelle sind Teil des impliziten Gedächtnisses, und man nimmt an, dass sie aus den Mustern neuronalen Feuerns in den Sinnesmodalitäten von Sehen, Hören, Tasten und Riechen entstehen, die sich durch wiederholte Interaktionen ansammeln. Das im Gehirn erzeugte Modell dient als eine Art Gesichtspunkt, Perspektive oder Geisteszustand, das unmittelbar beeinflusst, wie wir etwas wahrnehmen und wie wir in Zukunft reagieren werden. Implizite Erinnerungen, und besonders die mentalen Modelle aus unseren vielfältigen Erlebnissen, erschaffen wahrscheinlich die Themen der Geschichten, die wir erzählen, und organisieren, wie wir Entscheidungen für unser Leben treffen.

      Mentale Modelle dienen als eine Art Trichter, durch den Informationen gefiltert werden, als Linsen, mit deren Hilfe wir die Zukunft voraussehen und dadurch unseren Geist auf die entsprechenden Aktionen vorbereiten können. Diese Linsen befinden sich außerhalb unserer bewussten Sicht und verfälschen unsere Wahrnehmung, ohne dass wir uns ihrer Existenz bewusst sind. Sie entstammen unseren früheren Erfahrungen, werden auf eine bestimmte Weise aktiviert und formen dann schnell unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, unsere Überzeugungen und Einstellungen und die Art, wie wir mit der Welt um uns herum in Verbindung treten.

      Wenn Sie zum Beispiel als kleines Kind von einer Katze gebissen wurden, kann eine spätere Begegnung mit einer Katze zur Folge haben, dass sich Ihre Gemütsverfassung schlagartig ändert und Sie plötzlich Angst bekommen: Sie sind wachsam gegenüber der Katze, fixieren ihre Zähne, verspüren ein inneres Gefühl von Panik und sind bereit, schnell zu reagieren, sollte sich die Katze auf Sie zubewegen. Die veränderte Wahrnehmung, der innere Gefühlszustand und die Aktivierung des Selbsterhaltungstriebes (kämpfen – fliehen – erstarren) geschehen automatisch. Sie sind von der Fähigkeit des Gehirns geprägt, schnell und ohne bewusste Aufmerksamkeit oder Planung einen Geisteszustand herzustellen, der so organisiert ist, dass er die Wahrnehmung bestimmt und den Körper darauf vorbereitet, zu reagieren. Prinzipiell ist das die Art und Weise, wie mentale Modelle dafür sorgen, dass eintreffende Informationen in die richtigen Bahnen gelenkt und gefiltert werden und dass sich die Stimmung plötzlich ändert.

      Mentale Modelle und die Zustände, die sie hervorrufen, sind ein grundlegender Bestandteil des impliziten Gedächtnisses. Wir nehmen ihren Ursprung als solche nicht bewusst wahr, aber wir spüren deutlich ihre Wirkung (Katze beobachten, Angst verspüren). Angelegenheiten aus unserer Vergangenheit können uns in der Gegenwart beeinflussen und verändern, wie wir uns in der Zukunft verhalten, indem sie unmittelbar bestimmen, wie wir das, was um uns herum und in uns vorgeht, wahrnehmen. Die Schatten, die implizite mentale Modelle auf unsere Entscheidungen und unsere Erzählungen über unser Leben werfen, können durch zielgerichtetes Nachdenken über sich selbst explizit gemacht werden. Ein solcher bewusster Prozess kann unser Verständnis von uns selbst verbessern und ein Weg sein, mentale Modelle zu verändern. Ein Weg, der uns die Tür zu lebenslanger Entwicklung öffnet. Damit wir uns aus dem Gefängnis dieser Schatten aus der Vergangenheit befreien können, müssen wir einen Prozess der Selbsterkenntnis durchlaufen, in dessen Rahmen wir uns vor Augen führen, wie diese Muster von verfälschter Wahrnehmung und Verhaltensimpulsen als grundlegende Bestandteile tief verwurzelter mentaler Modelle und unflexibler Geisteshaltungen in uns wirken. Wenn man sich die Zeit zum Nachdenken nimmt, öffnet man damit die Tür zur bewussten Wahrnehmung und erhält damit die Chance zur Veränderung.

      Untersuchungen über das Kodieren von Erinnerungen lassen vermuten, dass unsere Wahrnehmungen durch unsere Erfahrungen geprägt werden. Doch unsere Wahrnehmung bestimmt wie wir unsere Erfahrungen verarbeiten. Wenn wir uns selbst besser verstehen, können explizites Wissen und implizite Erinnerung gemeinsam unser Selbstbild formen und bestimmen, wie wir uns mit der Welt austauschen. Endel Tulving und seine Kollegen in Toronto haben den Prozess des selbstverstehenden Bewusstseins oder der Autonoesis beschrieben, die im integrativen neuralen Schaltkreis in den präfrontalen Gehirnregionen auftreten. Selbsterkenntnis wird geschaffen durch eine Verbindung der verschiedenen Elemente der Erinnerung, die im gesamten Gehirn gespeichert sind, einem Gemisch von Elementen aus der Vergangenheit, Wahrnehmungen in der Gegenwart und Vorwegnahmen der Zukunft.

      Die interaktive Rückkopplung der Erfahrung bestimmt, wie wir wahrnehmen und wie wir die Zukunft in mentalen Modellen der Welt vorwegnehmen. Das bedeutet, dass wir aktiv unsere eigene Realität konstruieren, während gleichzeitig unsere Erfahrung bestimmt, wie wir zu unserer Sicht der Realität gelangen. Erfahrungen, die unsere körperlichen Empfindungen mit denjenigen integrieren, die wir in Beziehungen mit wichtigen Bezugspersonen haben, können ein wichtiger Baustein des sich entwickelnden Selbst sein. Die Erfahrungen von Helen Keller (1880–1968), die von Geburt an blind und taub war, werden von Paul John Eakin als Beispiel dafür angeführt, wie Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen. Sie illustrieren diesen verbindenden Bestandteil in der Entwicklung: Die Schriften von Helen Keller, so Eakin, sind ein „seltener und möglicherweise einzigartiger Bericht, wie sich zu dem Zeitpunkt, in dem Sprache begriffen wird, das Selbst manifestiert. … Obwohl Keller schon zuvor ein schlichtes Vokabular von Finger-Wörtern, die ihr von ihrer Lehrerin Anne Sullivan in die Hand buchstabiert worden waren, gemeistert hatte, erlangte sie erst als Sullivan eine ihrer Hände unter einen Brunnen hielt und in die andere das Wort Wasser buchstabierte, gleichzeitig ein Verständnis von Sprache und von einem Selbst. Es war wahrhaftig eine intellektuelle und spirituelle Taufe: ‚Ich begriff, dass ›W-a-s-s-e-r‹ dieses wundervoll kühle Etwas bezeichnete, das über meine Hand rann. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele.‘ Ich habe das Ergebnis der Brunnenhaus-Episode schematisch folgendermaßen zusammengefasst. … Von den Grundzügen her stimmt die Keller-Episode mit der Sichtweise des sozialen Konstruktivismus hinsichtlich der Identitätsbildung überein. Mein schematischer Bericht über einen einzigen Augenblick (Selbst/Sprache/Andere) spiegelt die Tatsache wider, dass eine ganze Phase der Entwicklungsgeschichte, die normalerweise über einige Monate hinweg verläuft, im Fall von Keller auf die Dauer eines enthüllenden Augenblicks komprimiert wurde. … Keller betont sowohl die Beziehungsdimension dieser Episode (die entscheidende Rolle der ‚Lehrerin‘) als auch die Erdung der gesamten Erfahrung in ihrem Körper“ (Eakin, S. 66/67).

      Die präfrontalen Bereiche des Gehirns, insbesondere der orbitofrontale Kortex, sind essentiell für die Vermittlung zwischenmenschlicher Kommunikation, Darstellungen des Körpers und autobiografische Bewusstheit. Die Fähigkeit des orbitofrontalen Kortex, unser ganzes Leben lang zu wachsen, gibt uns Hinweise darauf, wie eine bessere Selbstkenntnis die Art und Weise, wie wir andere und uns selbst wahrnehmen, verändern kann. Während unserer lebenslangen Entwicklung bilden unsere Erfahrungen mit anderen und die Erfahrungen in

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