Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Daniel Siegel

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Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen - Daniel Siegel Mit Kindern wachsen

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autobiografischer Tiefe mangelt oder weil die Beiträge aus dem rechten Modus keinen Sinn ergeben. Geschichten, die unser Leben in einem sinnvollen Licht erscheinen lassen, erfordern sowohl klares Denken als auch Zugang zu den genauso wichtigen emotionalen und autobiografischen Aspekten der Erfahrung.

      Eine Frau in den Mittdreißigern, die schon als Jugendliche ihren Vater verloren hatte, hatte zum Beispiel nie wirklich um diesen Verlust getrauert. Immer wenn sie von ihren Teenager-Jahren sprach, brach sie in Tränen aus und konnte nicht weitererzählen. Ihr letztes Erlebnis mit ihrem Vater, kurz vor seinem Herzinfarkt, war in angespannter Atmosphäre verlaufen, da sie gestritten hatten, weil er ihren Freund nicht mochte. Sie konnte nicht wirklich um ihn trauern und diesen Verlust in eine kohärente Erzählung ihres Lebens aufnehmen, bevor sie nicht ihre Schuldgefühle verarbeitet hatte.

      Wenn Sie über sich selbst nachdenken und sich etwas wie zwei unterschiedliche Modi subjektiven Erlebens anfühlt, versuchen Sie sich das bewusst zu machen. Diese beiden Modi zu kombinieren kann für die Ausgewogenheit und Stimmigkeit Ihres Geistes und das Erzählen einer kohärenten Lebensgeschichte essentiell sein.

      Kohärenz und Integration

      Unsere Beziehung zu unseren Kindern basiert auf den zahlreichen Erfahrungen, die wir miteinander teilen. Erfahrungen, die eine große Bandbreite innerer Prozesse mit einbeziehen, scheinen einen ausgewogenen Umgang mit anderen zu fördern. Werden separate und unterschiedliche „differenzierte“ Prozesse zu einem funktionierenden Ganzen zusammengefügt, können wir den Begriff „Integration“ verwenden. Lassen Sie uns die verschiedenen Arten betrachten, auf die das Gehirn in einen integrierten Zustand versetzt werden kann. Wenn die komplexere, reflektierende und konzeptuelle Verarbeitung der anatomisch höher liegenden Hirnrinde mit den eher grundlegenden, emotionalen und motivationalen Antrieben der tiefer liegenden Gehirnregionen kombiniert wird, erlangen wir die Fähigkeit, aus einem integrierten Zustand heraus zu handeln, aus einem vertikal integrierten, besseren Verarbeitungsmodus. Wenn die reflektierenden Funktionen des Cortex abgetrennt werden, verfallen wir in den nicht integrierten „niederen“ Reaktionsmodus und werden unflexibel.

      Auch eine horizontale Integration, bei der die rechte und linke Gehirnhälfte zusammenarbeiten, ist möglich. Diese bilaterale Integration ist wahrscheinlich zentral für die Erschaffung kohärenter Erzählungen, wenn wir unser Leben ordnen. Da sich anhand einer kohärenten Lebensgeschichte am ehesten eine sichere Bindung unserer Kinder zu uns vorhersagen lässt, ist dieser Prozess bilateraler Integration wohl eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Eltern ihren Kindern eine förderliche Umgebung und eine sichere Basis bieten können.

      Das Verfassen unserer Lebensgeschichten kann, zusätzlich zur vertikalen und horizontalen, noch von einer weiteren Integration abhängen: der temporalen Integration, welche die Prozesse durch die Zeit hindurch verbindet. Das ist ganz grundlegend etwas, was Geschichten bewirken: Sie verbinden das vergangene Selbst mit dem heutigen und dem der angenommenen Zukunft. Diese mentale Zeitreise ist eine zentrale Eigenschaft aller Geschichten, die man weltweit findet.

      Gesunde Beziehungen und wohl auch unser eigenes inneres Gefühl von Kohärenz und Wohlbefinden, sind wahrscheinlich von einem fließenden und aktiven Integrationsprozess in unserem Geist abhängig. Unser geistiges Wohlbefinden kann auf viele Arten von den Integrationsschichten, die unser Gefühl von Verbundenheit mit uns selbst und anderen verstärken, abhängig sein. Wenn wir die Integration über diese vielen unterschiedlichen Bereiche fördern, können unsere Selbsterkenntnis und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gedeihen und unser Leben sowie das unserer Kinder bereichert werden.

      Das Teilen von Geschichten – aus dem Geist einer Person mit dem anderer – ist eine universelle Art, Verbindung zueinander herzustellen. Geschichten befähigen uns zu zwischenmenschlicher Integration. Wenn wir an wichtige Leute in unserem Leben denken, erinnern wir uns oft an Momente der Verbundenheit, die sich in den persönlichen Geschichten ausdrücken, die wir in unseren Beziehungen so schätzen. Bei Hochzeiten, Abschluss- und Wiedersehensfeiern und bei Beerdigungen ist die Luft von Erzählungen erfüllt, wenn die Menschen Kontakt zueinander aufnehmen, indem sie über die Kraft ihrer gemeinsamen Erlebnisse reflektieren, die bezeugen, wie die Zeit vergeht.

      Wenn Sie über Ihre eigene Lebensgeschichte nachdenken, können Sie zu einem besseren Verständnis Ihrer selbst gelangen, Ihre Emotionen in Ihren Alltag integrieren und so diesem wertvollen Weg zum Verstehen Ihren Respekt erweisen. Wenn sich Ihr Geist durch Selbstreflexion ändert, kann es geschehen, dass sich ebenso Ihre Erfahrungen mit Ihrem Kind ändern. Erfahrungen formen den Geist genauso wie der Geist die Erfahrungen. Das persönliche Wachstum und die gewonnene Selbsterkenntnis, die daraus resultieren, dass man seine Lebensgeschichten entwickelt, können zu einer besseren Geistsicht und zu mehr Empfindsamkeit gegenüber dem eigenen Kind führen.

      Übungen von innen heraus

      1. Sehen Sie sich noch einmal die Tabelle 2 auf Seite 56 an. Schreiben oder zeichnen Sie Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung zu jedem Element in jedem Modus in Ihr Tagebuch, um Ihre Aufmerksamkeit gegenüber den verschiedenen Verarbeitungsarten zu trainieren. Wenn Sie zu einem besseren Verständnis Ihrer selbst gelangen, werden Sie vermutlich feststellen, dass Sie die links- und rechtshemisphärischen Verarbeitungsmodi deutlicher wahrnehmen. Achten Sie besonders auf die nonverbalen, unlogischen und oft nicht vorhersehbaren Empfindungen des rechtsseitigen Modus bei Ihnen und Ihrem Kind.

      2. Wörter in ein Tagebuch zu schreiben kann den linksseitigen Modus überbetonen. Bitte unterstützen und respektieren Sie auch die Bilder des rechtsseitigen Verarbeitungsmodus, wenn Sie über Ihre Erfahrungen nachdenken. Wir sind uns des rechtshemisphärischen Modus oft so subtil bewusst, dass es sich nur schwer in Worten ausdrücken lässt! Notieren Sie im Bewusstsein dieser Vorstellungen die Bilder und Erinnerungen, die aufsteigen, wenn Sie versuchen, eine Geschichte über die Entwicklung und die Bedeutung einer bestimmten Angelegenheit zu erzählen, die Ihre Verbindung zu Ihrem Kind betrifft. Schreiben Sie auf, wann es angefangen hat, wie es Ihre Entwicklung beeinflusst hat und wie es sich auf Ihre Beziehung zu Ihrem Kind auswirkt. Welche Gesichtspunkte dieser Angelegenheit erscheinen Ihnen als besonders anstrengend? Stellen Sie sich vor, dass Sie etwas Unerledigtes oder Ungelöstes verarbeiten. Schreiben Sie eine neue Geschichte darüber, wie dessen Heilung aussehen würde. Inwiefern würden sich die Dinge in Zukunft vom jetzigen Zustand unterscheiden?

      3. Überlegen Sie sich drei Wörter, die Ihre Beziehung zu Ihrem Kind beschreiben. Würden Sie ähnliche Wörter verwenden, um Ihre Erinnerungen an Ihre Kindheitserfahrungen mit Ihren Eltern zu beschreiben? Worin unterschieden sie sich? Fassen diese Wörter die Beziehungen korrekt zusammen? Erinnern Sie sich an Teile dieser wichtigen Beziehungen, zu welchen die Verallgemeinerungen nicht gut passen? Wie passen diese Ausnahmen in die größere Geschichte Ihres Lebens mit Ihren Eltern und Ihrem Kind?

      IM LICHT DER WISSENSCHAFT

      Die Wissenschaft der Erzählungen

      Die Wissenschaft der Erzählungen greift auf eine Vielzahl unterschiedlicher akademischer Disziplinen zurück, von der Anthropologie und dem Studium der Kulturen zur Psychologie und dem Studium, wie Menschen einander ihre Gedächtnisinhalte nahe bringen. Unsere Erfahrungen innerhalb der Familie prägen, wie wir die Welt um uns wahrnehmen. Der Kulturkreis, in dem wir leben, hat ebenfalls großen Einfluss darauf, wie unser Geist Informationen verarbeitet und unserem Leben einen Sinn gibt. Neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung tragen ebenfalls zu unserem Verständnis der wichtigen Rolle von Geschichten im menschlichen Leben bei.

      Diese Wissenschaften zeigen uns mehrere Dinge:

      • Geschichten sind universell – sie finden sich in jeder menschlichen Kultur dieses Planeten.

      • Geschichten begleiten uns unser Leben lang – sie haben ihren Platz schon früh im Leben beim Austausch zwischen Eltern und Kindern und spielen ihre Rolle in Beziehungen bis zum Erwachsenwerden weiter.

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