Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Daniel Siegel

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Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen - Daniel Siegel Mit Kindern wachsen

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Implizite Erinnerungen ohne explizite Verarbeitung können in extremen Fällen dazu führen, dass man einen Flashback erfährt, eine Rückblende, in der man Ereignisse noch einmal durchlebt. Im Allgemeinen sind sie jedoch eher die Ursache für starre, implizite, mentale Modelle, die Eltern daran hindern, im Umgang mit ihren Kindern flexibel und einfühlsam zu bleiben.

      Kapitel 2

      Wie wir die Realität wahrnehmen

      Wir schreiben unsere Lebensgeschichten

      Einleitung

      In Geschichten interpretieren wir die Ereignisse in unserem Leben. Jeder Einzelne und wir alle gemeinsam erzählen Geschichten, um zu verstehen, was mit uns geschehen ist, und um in diesen Erfahrungen einen Sinn zu erkennen. Das Geschichtenerzählen ist eine Grundlage aller menschlichen Kulturen, und unsere gemeinsamen Geschichten schaffen eine Verbindung zu anderen, die uns das Gefühl gibt, zu einer bestimmten Gemeinschaft zu gehören. Die Geschichten einer bestimmten Kultur prägen die Art, wie ihre Mitglieder die Welt wahrnehmen. Auf diese Weise erfinden wir Geschichten, welche wiederum uns prägen. Aus diesem Grund sind Geschichten ein zentraler Bestandteil individueller und kollektiver menschlicher Erfahrung.

      Wir alle haben unsere individuellen Geschichten, die persönlichen Erzählungen unseres Lebens, mit deren Hilfe wir unsere Selbsterkenntnis vertiefen und zu einem besseren Verständnis von uns selbst und unseren Beziehungen zu anderen gelangen. Mit autobiografischen Erzählungen versuchen wir einen Sinn in unser Leben zu bringen – sowohl in das, was uns widerfahren ist, als auch in unser eigenes inneres Erleben, jenes prachtvolle Gewebe einzigartigen, subjektiven Lebensgefühls, das jedem Individuum innewohnt. Indem wir durch das Erforschen der Ereignisse und mentalen Abläufe in unserem Leben lernen, uns selbst besser zu verstehen, werden unsere autobiografischen Geschichten wachsen und sich entwickeln.

      Auch Kinder versuchen ihre Erfahrungen zu verstehen und einen Sinn darin zu sehen. Wenn Sie Ihren Kindern die Geschichte eines Erlebnisses erzählen, können Sie ihnen helfen, sowohl die Ereignisse als auch den emotionalen Gehalt der Erfahrung zu verarbeiten. Ein solcher Austausch mit den Kindern kann ihnen sehr dabei helfen, einen Sinn in das Geschehene zu bringen und ihnen Mittel zur Verarbeitung von Erfahrungen an die Hand geben, die sie zu nachdenkenden und einsichtigen Menschen machen. Ohne das emotionale Verständnis einer erwachsenen Bezugsperson kann ein Kind schnell Kummer oder sogar Scham empfinden.

      Annika kam im Alter von drei Jahren in Marys Kindergarten. Sie sprach nur Finnisch. Ihre Familie war für zwei Jahre nach Kalifornien gezogen, da der Vater als Gastdozent an der Universität in Los Angeles arbeitete. Als Annika neu in den Kindergarten kam, blieb ihre Mutter so lange bei ihr, bis sie sich in der Umgebung und bei den Erziehern wohl fühlte. Sie war ein sehr nettes und aufgeschlossenes Kind, das gern mit anderen spielte, und die Sprachbarriere war nahezu unbedeutend bei dem Spaß, den die Kinder miteinander hatten.

      Ihre Mutter konnte sie schon seit einigen Wochen ohne Schwierigkeiten im Kindergarten lassen, als etwas geschah, das deutlich zeigte, wie wichtig eine Geschichte für ein Kind sein kann, um seinen Kummer zu verarbeiten. Annika hatte den ganzen Morgen fröhlich gespielt, da fiel sie hin und schlug sich das Knie auf. Wie die meisten Kinder nach einem Sturz rief sie weinend nach ihrer Mutter. Bei ihrer Erzieherin konnte sie keinen Trost finden und so war sie weiterhin tiefunglücklich. Die Erzieherin bat die Bürohilfe nach der Mutter zu telefonieren und bemühte sich weiter, Annika zu trösten. Normalerweise hilft es einem Kind sehr, den Ablauf des Ereignisses und die damit verbundenen Gefühle noch einmal zu erzählen, um das Erlebnis zu verstehen und Trost bei einem einfühlsamen Erwachsenen zu finden. Da die Erzieherin jedoch nicht Finnisch sprach und Annika nur sehr wenig Englisch verstand, hatten die Worte der Erzieherin keinen nennenswerten Erfolg. Daher sammelte sie rasch ein paar Requisiten und begann die Geschichte erneut mit Hilfe einiger Puppen und einem Spieltelefon zu erzählen. Eine kleine Puppe stellte Annika dar und wurde von der Erzieherin verwendet, um Annikas Erlebnis nachzuspielen. Das Erzählen einer Geschichte beinhaltet die Beschreibung einer Abfolge von Ereignissen und der Erfahrungen der an diesen Ereignissen Beteiligten. Erst spielte die Puppe, die Annika darstellte, dann fiel sie auf den Boden. Die Erzieherin machte ein das Weinen imitierendes Geräusch. Annika hörte auf zu weinen und sah zu. Die Geschichte ging weiter. Die „Erzieherinnen-Puppe“ sprach sanft mit der Annika-Puppe, und da begann die wirkliche Annika erneut zu weinen. Als die „Erzieherinnen-Puppe“ das Spieltelefon abhob, um die Mama-Puppe anzurufen, hörte Annika wieder auf zu weinen und sah und hörte zu.

      Mit Hilfe der Puppen spielte die Erzieherin mehrmals die Geschichte von dem aufgeschlagenen Knie und dem Anruf bei Mama, damit sie zur Schule kommt und Annika abholt. Annika verstand „Mama“ und ihren eigenen Namen und durch die Wiederholung der Geschichte mit den sichtbaren Requisiten begann sie zu verstehen, was geschehen war und was nun weiter geschehen würde. Mit jeder Wiederholung verschwand ihr Kummer mehr und mehr. Nach kurzer Zeit rutschte sie vom Schoß der Erzieherin und kehrte fröhlich zu ihrem Spiel zurück, offenbar sicher, dass ihre Mama kommen würde, um sie zu holen. Als ihre Mutter kam, brachte Annika die Puppen und das Telefon zu der Erzieherin, denn sie wollte die Geschichte noch einmal hören und die Erfahrung von dem aufgeschlagenen Knie und ihrem Kummer mit ihrer Mutter teilen.

      Das Erzählen der Geschichte tröstete Annika und erlaubte ihr nicht nur, zu verstehen, was geschehen war, sondern auch den Ausgang in Form der Ankunft ihrer Mutter vorauszusehen. Als Erwachsene erzählen wir unsere Geschichten normalerweise mit Worten. Kinder jedoch, auch solche, die gesprochene Sprache verstehen, ziehen einen großen Nutzen aus der Verwendung von Requisiten wie Puppen und Marionetten oder aus dem Zeichnen von Bildern, um mit ihrer Hilfe das Geschehene zu verarbeiten. Wenn Kinder verstehen, was ihnen widerfahren ist und was ihnen wahrscheinlich noch geschehen wird, lindert dies ihren Kummer normalerweise erheblich.

      Es mag Erfahrungen aus Ihrer Kindheit geben, die Sie zu jener Zeit nicht verarbeiten konnten, weil kein verständnisvoller Erwachsener verfügbar war, der ihnen half, das Erlebte zu verstehen. Der Geist versucht vom Beginn des Lebens an, einen Sinn in der Welt zu sehen und seinen inneren Gefühlszustand durch die Art der Beziehung, hier des Kindes zu den Eltern, zu regulieren. Eltern helfen ihren Kindern dabei, ihre innere Verfassung zu regulieren und ihren Erlebnissen Sinn zu geben. Wenn sie älter werden, entwickeln Kinder die Fähigkeit, diese Erlebnisse zu einer autobiografischen Erzählung zusammenzufügen. Diese Fähigkeit, Geschichten zu erzählen spiegelt die grundlegende Weise wider, wie sich ein Kind den Sinn der Welt hergeleitet und gelernt hat, seinen Gefühlszustand zu regulieren.

      Die Art, wie wir unsere Lebensgeschichte erzählen, zeigt, wie wir das verstehen, was uns in unserem Leben widerfahren ist. Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen? Empfinden Sie sich als distanzierter Erzähler oder durchleben Sie Ihre Gefühle erneut, wenn Sie Ihre Geschichte erzählen? Erscheinen Ihnen bestimmte Dinge mit intensiven Gefühlen verknüpft und ungelöst, obwohl sie vielleicht schon lange zurückliegen? Erinnern Sie sich an viele Details aus Ihrer frühen Kindheit? Was fühlen Sie, wenn Sie über Ihre frühesten Erlebnisse berichten?

      Unsere Lebensgeschichten können uns Aufschluss darüber geben, wie unsere Vergangenheit unsere Gegenwart beeinflusst. Die Art, wie wir sie erzählen und dabei bestimmte Aspekte betonen, kann zeigen, auf welche Weise wir die Welt und uns selbst verstehen. Sie können zum Beispiel an die Ereignisse im Familienkreis denken, ohne besonders auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander einzugehen. Bei einigen Familien verhalten sich die Mitglieder sehr distanziert zueinander, man zeigt nur selten Gefühle, und jeder lebt mit seinen eigenen Gefühlen für sich. In solchen Familien kann es sowohl Eltern als auch Kindern schwer fallen, eine ausdrucksvolle autobiografische Geschichte zu erschaffen. In dieser Situation lassen sich nur schwer Einzelheiten abrufen, und manchmal fehlen jegliche Gefühle. In den Familien tauscht man sich häufig nur über die äußeren Ereignisse und nicht über die Befindlichkeiten der Mitglieder aus. In emotional distanzierten Familien scheint die wichtige Fähigkeit der Geistsicht, die Fähigkeit, den eigenen Geist und den anderer wahrzunehmen, sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern nur sehr minimal

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