Die Täuschung. Norbert Lüdecke
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1972–1975 reagierten die deutschen Bischöfe mit der Einberufung der Würzburger Synode auf die nächste heikle Situation: Auf dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) durfte über die Frage der erlaubten Methoden zur Empfängnisverhütung nicht diskutiert werden, weil diese einer Entscheidung des Papstes vorbehalten blieb. Die ließ nachkonziliar allerdings auf sich warten, wodurch sich im deutschen Katholizismus ein immer stärkerer Druck aus Hoffnungen und Befürchtungen aufbaute. Ohnehin angeregt durch die allgemeine Reformerwartung nach dem Konzil, hofften viele Katholiken, das bisherige Verhütungsverbot könnte aufgehoben werden, zumal die Ergebnisse einer Kommission zur Beratung des Papstes in dieser Frage mehrheitlich in diese Richtung zeigten. Je länger die päpstliche Entscheidung auf sich warten ließ, desto mehr wuchs allerdings auch die Befürchtung, der Papst könne auf der traditionellen Lehre beharren. Überdruck und Explosionsgefahr im Kirchenkessel drohten, als 1968 die „Pillen-Enzyklika“ Papst Pauls VI. mit ihrer Einschärfung des Verbots jeder künstlichen Empfängnisverhütung den schlimmsten Befürchtungen entsprechend alle diesbezüglichen Hoffnungen zerstörte. Ein so noch nie dagewesener Protest und Aufstand gegen die als autoritär und übergriffig empfundene Hierarchie war die Folge und fand seinen exemplarischen Ausdruck 1968 auf dem Essener Katholikentag. Die Bischöfe nahmen damals realistisch wahr, mit bloßer Papsttreue und nur formal begründeter Einforderung von Gefolgschaft riskierten sie völligen Kontrollverlust und Dauerschaden an ihrer Autorität. Was sie brauchten, war eine kontrollierte und dauerhafte Druckabsenkung. Dazu öffneten sie mehrere Ventile: Akut ließen sie auf dem Katholikentag 1968 der spontanen Erregung und dem Diskussionsbedarf freien Lauf. Bereits zuvor hatten sie schon Druck durch ihre schnell präsentierte „Königsteiner Erklärung“ entweichen lassen: In dieser ließen sich die Bischöfe so verstehen, als sei die eigene Gewissensentscheidung der Gläubigen bei der Wahl der Verhütungsmethode mit der Vorgabe des Papstes vereinbar; deutsche Katholiken wähnten deshalb die Bischöfe auf ihrer Seite. Erst später mussten sie realisieren, dass dies ein Missverständnis war.
Das entscheidende Ventil zu einer längerfristigen Befriedung war ein anderes: Schon im Umfeld des Essener Katholikentages hatte der Vorsitzende der Bischofskonferenz zusammen mit ZdK-Führungspersonen die Idee einer deutschlandweiten Synode, also eines Beratungsvorgangs, geboren und in schneller und konzertierter Vorbereitung verwirklicht. Sinn und Zweck der sogenannten Würzburger Synode (1972–1975) war, im Kontext von Demokratisierungsforderungen, die aus der Gesellschaft in die Kirche hinüberzuschwappen drohten, ein Format zu präsentieren, das Katholiken ein Aussprache- und Mitwirkungsforum bot, ohne jedoch die Autorität der Bischöfe anzutasten. Diese wollten sie ungeschmälert behalten, aber „dialogisch“ ausüben. Verwirklicht wurde das durch ein Statut, das die Synode zu einem Entscheidungsorgan machte und demokratieähnliche Mitbestimmung suggerierte, aber zugleich sehr geschickt dafür sorgte, dass die Kontrolle über Ablauf, Themen und Entscheidungen bei den Bischöfen blieb. Die Rechnung der Bischöfe und des willig kooperierenden ZdK ging auf und sorgte trotz des nicht behobenen Reformbedarfs für eine ambivalente Ruhe, die einerseits auf der Zufriedenheit derer beruhte, denen eine Aussprache vor und mit Bischöfen genügte, und andererseits auf der Erschöpfung und Enttäuschung derjenigen, die zu spät erkannten, dass sie sich über Jahre in einer Partizipationsattrappe engagiert hatten, die mit Demokratie nichts zu tun hatte und dies nach amtskirchlicher Überzeugung auch niemals haben durfte.
In dieser trügerischen Ruhe baute sich anschließend in einem längeren Prozess von zwei Seiten erneuter Druck auf. Zunächst hielt das ZdK über längere Zeit nicht zuletzt durch Ausgrenzung des Linkskatholizismus und der bleibenden heißen Eisen wie Priesterzölibat, Frauenrechte, Laienmitbestimmung und wiederverheiratete Geschiedene noch eine Konsensfassade aufrecht. Je mehr Katholiken sich allerdings politisch nicht mehr nur durch die Union vertreten sahen, in der das ZdK maßgeblich verankert blieb, und je deutlicher sich die klassischen, weil unbewältigten innerkirchlichen heißen Themen zurückmeldeten, desto weniger konnte sich das ZdK auf Dauer dem Veränderungsdruck entziehen. Es öffnete sich seit Ende der 1980er-Jahre nicht nur für die SPD wie später auch für die Grünen, sondern integrierte auch früher ausgegrenzte Reformanliegen.
Auf der anderen Seite setzte ein Restaurierungsprozess von oben ein. Die Würzburger Befriedung hatte Zeit und Raum für eine Neuetablierung der kirchlichen Autorität geschaffen, die sich nie aufgegeben, sondern nur zeitweilig machtopportunistisch zurückgenommen hatte. Das änderte sich entschieden, als im Konklave von 1978 ein Mann an die höchste (Voll-)Macht in der Kirche kam, der von Anfang an keinen Zweifel daran ließ, wer der Herr im katholischen Haus zu sein hatte. Zusammen mit seinem kongenialen Glaubenswächter Kardinal Ratzinger baute Papst Johannes Paul II. die autoritative Infrastruktur der katholischen Kirche durch das neue weltweite Kirchengesetzbuch, den Codex Iuris Canonici von 1983, maßgeblich wieder aus. Auf der doktrinellen Ebene schärfte er sensible Lehren wie die der Enzyklika „Humanae Vitae“ neu ein und verschärfte die Lehre von der Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen durch ihr formales Upgrade zu einer unfehlbaren Lehre. Widerspruch aus der Theologie stieß auf entschiedene römische Sanktionen.
Ein Teil der Bischöfe versuchte zeitweilig, den erneuten Druckanstieg durch unterschiedliche diözesane Gesprächsereignisse zu mindern. Sie produzierten gleichwohl nur neue Enttäuschung und Unzufriedenheit und konnten weder das Kirchenvolksbegehren noch die Eskalation des Konflikts zwischen Papst und deutschen Bischöfen mit dem ZdK in der Frage der Schwangerenkonfliktberatung verhindern. Letzterer wurde durch ein Machtwort des Papstes entschieden, nicht gelöst. Während Teile der Laien an ihrer Gewissensentscheidung festhielten und Beratungsstellen in eigene Regie übernahmen, gehorchten mit einer Ausnahme alle deutschen Bischöfe dem Ausstiegsbefehl aus Rom. Die Probleme aber blieben unbewältigt, weil autoritär abgeblockt, und schwelten weiter.
Als die Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten das Skandaljahr 2010 einleitete, bestand erneut akute Explosionsgefahr. Und wieder griffen die Bischöfe zu der inzwischen auch in Österreich erprobten Kombination aus demonstrativer Gesprächsbereitschaft und mobilisierender Gemeinsamkeitsrhetorik, die zwar nie etwas mit Gleichberechtigung zu tun hatte, aber doch vielfach so verstanden wurde. Sie riefen einen über die Jahre 2011–2015 gestreckten „Gesprächsprozess“ aus, den sie nach Inhalt und Verlauf steuerten. Die Laien ließen sich erneut hoffnungsfroh darauf ein und realisierten erst spät im Verlauf oder erst am Ende, dass sie viel reden, aber nichts hatten entscheiden können, weil auch umgängliche Hirten an runden Tischen nicht zu Schafen mutierten, sondern ihre ständische Positionsmacht ungeschmälert behielten. Die Bischöfe bestimmten nach ihrem freien Ermessen ebenso darüber, ob es überhaupt einen Dialog gab, wie über den Ablauf und die Inhalte und über die Umsetzung etwaiger Ergebnisse.