Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger
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Doch Ralf ist nicht mein einziger Patient, der diesen Weg der »Gefühlsvertaubung« gegenüber zwischenmenschlichen Liebesbeziehungen für sich als Lebensstrategie gewählt hat.
Da gibt es Klaus, der seine Frau während der Schwangerschaft, in der sie wegen vorzeitiger Wehen nicht mit ihm schlafen kann, damit konfrontiert, seinen Hormonspiegel mit Unterstützung einer früheren Freundin abbauen zu müssen. Und der meint, nur auf diese Weise über genügend Energie zu verfügen, um sich auf ihr gemeinsames Kind unbeeinträchtigt freuen zu können.
Oder auch die Volksschuldirektorin Elisabeth, die nun, am Ende ihrer 40er, endlich mit Hilfe von Internetforen und einer Freundinnenschar einen klaren Katalog all jener Bedürfnisse angelegt hat, die ihr zukünftiger Traumpartner befriedigen muss. Den kann sie heute im Schlaf und kompromisslos herunterbeten. Die durch entsprechende Plattformen herangeschafften Kandidaten werden rigoros, wenngleich in den letzten beiden Jahren ergebnislos, vermessen. Ein frustrierendes Unterfangen, das ihren abendlichen Alkoholkonsum immer mehr verstärkt hat.
Hartmuth, ein habilitierter Neurologe, in dessen Hände ich meinen Schädel mit blindem Vertrauen legen würde, hat es scheinbar viel besser gemacht. Jedenfalls hat er viele Neider wegen seiner 25 Jahre jüngeren Frau, die er von einer Urlaubsreise aus Rumänien mitgebracht hat. In äußerst bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ist sie das sexuelle Haushaltspaket seiner mittleren und späteren Jahre. Sie verbindet den Vorzug von Unterlegenheit mit jenem mangelnder Sprachkenntnisse. Sogar einen kleinen Sohn hat er sich auf diese Weise noch anschaffen können, wie er es mir gegenüber nennt. Damit ist auch für die Beschäftigung der bildhübschen jungen Frau aus dem nordöstlichsten und ärmsten Teil von Rumänien gesorgt. Mehr ist da nicht, keine tieferen Gefühle, wehrt er meine Nachfrage fast entrüstet ab. Seine wirkliche Leidenschaft gilt seiner Karriere und Motorradtouren im wilden Gelände, die früher gut gegen seine Depressionen gewirkt haben.
Die erfolgreiche Versicherungsmaklerin Regina wiederum setzt auf die Lebensfreundschaftsbeziehung statt auf eine Liebesbeziehung zu einem Mann. Mit Karl, einem regionalen Immobilienmakler, den sie noch aus Jugendjahren kennt, hat sie den idealen Konterpart gefunden. Sie teilt viel an gemeinsamer Freizeitaktivität, beruflichem Austausch und wechselseitigem Beistand in den unterschiedlichsten Lebensanliegen mit ihm. Aber sicher nicht Sexualität und Liebe. Alles, was im Leben der 52-Jährigen über Freundschaft hinausgehen könnte, ist tabu. »Dafür bin ich einfach zu alt«, hat sie entschieden. Bei mir auf der Couch liegt sie wegen ihrer zwanghaften Hypochondrie.
Nun ließe sich an dieser Stelle sicher gut einwenden, dass es sich hier um ein altersgruppenspezifisches Phänomen handeln könnte. Die mittleren Lebensjahre eben, mit ihren Stromschnellen, die die schon viel weiter oben im Strömungsverlauf angelegten Schwierigkeiten zu Tage treten lassen. Eine Überlegung, die auch für mich beim ersten Hinsehen großen Charme ausstrahlte. Handelte es sich hier etwa nur um das Problem einer kleinen, speziellen Randgruppe von Patienten, die ihre Midlife-Crisis nicht erfolgreich zu überwinden gewusst hatte und so in das Mingle-Schema der totalen Unverbindlichkeit gerutscht war? Die schon aus der Kindheit mit schlechten Bewältigungsstrategien ausgerüstet und eventuell bereits traumatisiert nun psychisch oder psychosomatisch auffällig wurde? Und die als vielleicht neu zu beschreibendes »Gruppensymptom« die Fähigkeit von tiefer emotionaler Bezugsfähigkeit auf ein Partnergegenüber vermissen ließ? War es eventuell auch ein durch die Emanzipationsbewegung erklärbares Generationsproblem der heute 45 bis 60-Jährigen? Jener Frauen also, die schon mit dem vollständigen Konzept, was es bedeutet, eine emanzipierte Frau zu sein, in ihre jungen Frauen- und Beziehungsjahre gegangen waren, nur um auf jene weiterhin in Sachen Emanzipation verschlafen sozialisierten jungen Männer zu treffen, die sich im Zweifelsfall doch besser am patriarchalen Rollenmodell festhielten? Stand hier die Wiege des Mingle-Daseins? Da hatte es sicher genügend Möglichkeit gegeben, einander in Rollenunverträglichkeit ausgiebig an die Kehle zu gehen und Blessuren zu schlagen. Die zarter Besaiteten landeten dann eben auf der Couch und gaben in Sachen Liebe in der einen oder anderen Weise auf.
Wie sah es dagegen bei meinen jüngeren Patienten, also jenen »Millennials« aus, die allesamt ein Geburtsdatum jenseits von 1980 aufweisen? Welche Bedeutung und welchen Stellenwert in ihrer Selbstkonstruktion nahmen Beziehungen für sie ein? Diese Frage beschäftigte mich als nächstes.
Nina ist irgendwo im Umfeld von Linz aufgewachsen. Ihre Mutter ist Volksschuldirektorin, ihr Vater Jurist in einem großen Unternehmen. Nina besucht das lokale Gymnasium, genauso wie ihre zwei Jahre ältere Schwester. Die Beziehung der Eltern ist schwierig und konfliktreich. Der Vater unterhält über Jahre eine Beziehung mit einer Arbeitskollegin, die Familie