Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger

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Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger

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Einen anderen Menschen überhaupt noch tief und rückhaltlos lieben zu wollen, kam aus der Mode. Das war neu. Wo war die Kraft hingekommen? Es schien mir, als hätten meine heutigen Patienten im Gegensatz zu meinen früheren auf ihrem Weg den Glauben verloren, als würde die analoge Erfahrung aller Betroffenen: »Scheiße, das war nicht der/die Richtige, das tut verdammt weh!« nicht mehr zu einem »Okay, dann muss ich etwas ändern, dazulernen, verbessern, auf etwas beim nächsten Mal mehr aufpassen« führen, sondern zu einem bitteren Erkenntnisprozess. Zu einer Grundhaltung von: »Also Beziehungen sind grundsätzlich scheiße, ich mach jetzt gar nichts mehr und kümmere mich nur mehr um mich, der/die Nächste wird sich bei mir gehörig anstrengen müssen, aber ich lass keine/n mehr wirklich an mich ran.« Eine Rücknahme der Besetzungsenergie auf sich selber, ein überzogenes Ausmaß von Beschäftigung mit sich und im Untergrund ein Eisberg an Enttäuschung und Frustration schienen die Folge dieser Schwäche zu sein. Resignation des psychischen Apparats, ein Motivationssystem, das nicht mehr genügend motiviert, die Hand mit Mut nach dem Gegenüber auszustrecken, sondern rät, nur ganz bei sich zu Hause zu bleiben. Bei meinen jüngeren und jungen Patienten schien mir die Sache noch viel grundsätzlicher zu verlaufen. Es mutete an, als würden viele von ihnen bereits an der Basis mit diesem Mangel an Begeisterungsfähigkeit für ein Gegenüber ausgerüstet sein. Schon von Beginn an schienen sie so geprägt in das zwischenmenschliche Beziehungsfeld einsteigen, ganz so, als würde ein zentrales Dogma das sich offen gebende, vertrauensvolle Lieben als gefährlich, unsicher und daher als zu vermeiden entwerten. Ein für die zwischenmenschliche Begegnung bereits zu invalidisierter psychischer Apparat, dem die Brille des Egos aufgeschweißt ist. Aber es ging ihnen allen schlecht damit und, auch wenn dies das rationale Wachbewusstsein mit lautem Pathos abstritt, so hoffte doch jeder ganz im Geheimen, in der letzten tiefsten und von zahlreichen Schlössern abgesicherten Kammer irgendwann dem Traumprinzen oder der Prinzessin zu begegnen. Dem Menschen, der sie mit ihrer Liebe wie das Sterntalerkind überschütten würde. Allerdings frei nach dem Motto: »Geliebt werden will ich schon, aber lieben nicht!« Doch unsere Biologie ist nicht zu betrügen. Der Mensch, das aristotelische zoon politikon, ist als homöostatisches System, sprich als ausgeglichener, gesunder, befriedigter Mensch unter solchen Vorzeichen nicht lebensfähig. Es lebt dann in einem kalten, allein mit Spiegelwänden ausgekleideten Kosmos und verbraucht einen Großteil seiner Energie mit der beständigen Verleugnung und Ablenkung von seiner einsamen Situation. Leben kann so nicht aus seiner Lebendigkeit heraus gestaltet werden. In einem strengen Konzept der Selbstinszenierung, das nur jene Begegnungen und Abläufe zulässt, die diesem kleinen, verunsicherten »Ego« genügend Kontroll- und Steuerungsgefühl vermitteln, wird konsumiert. Güter, Beschäftigungen, Hobbys oder auch andere Menschen. Wenn die Grundgeborgenheit im Lieben aber nicht gegeben ist, können weder genug Kleingeld, skurrile Sammlerleidenschaften, rastlose Selbstbeschäftigung, noch endloses Fitnesstraining helfen. Und auch die sexuelle Trophäensammlung vermag keine ausreichende Wärme zu entwickeln, um die existentielle Einsamkeit nachhaltig zu überwinden.

      Nun, hier bewegte ich mich immerhin beruhigenderweise noch im Fahrwasser des Patientenmodells. Es mochte sich also um einen Mechanismus handeln, dessen Erforschung möglicherweise durchaus interessant sein konnte, der allerdings nur auf Personen mit einer entsprechenden Zuordnung zu psychischer Beeinträchtigung zutraf. Zwar waren es immerhin stolze 38% der europäischen Bevölkerung, die irgendwann einmal eine klinisch relevante psychische Störung aufwiesen. Aber dennoch war das eine Minderheit, per definitionem eingerastert und abgesondert gegenüber der psychisch gesunden Normalbevölkerung.

      Wenn man sich für Motorräder interessiert …

      … dann sieht man sie plötzlich überall. Ist Ihnen dieser Mechanismus unserer selektiven Aufmerksamkeit schon einmal aufgefallen? Wenn wir uns für ein Ding oder eine Sache interessieren, dann fällt sie uns plötzlich viel stärker auf. Dies gilt für Motorräder, wenn wir gerade Motorrad fahren gelernt haben, genauso wie für Kinderwägen mit Babys, wenn wir vor wenigen Tagen einen positiven Schwangerschaftstest gemacht haben. Plötzlich ist die Welt voller Motorräder oder Kinderwägen mit schnuckeligen Babys. Natürlich nimmt weder die Zahl der Motorräder noch die der Babys in unserem Umfeld von einem magischen Mechanismus angetrieben auf einmal zu. Alles bleibt so, wie es das statistische Auftreten für Motorräder oder Babys in unserem Umkreis vorgibt. Was sich ändert, ist unsere Aufmerksamkeit dafür. Motorräder oder Babys werden durch den inneren Bezug, den wir zu ihnen entwickelt haben, einfach interessant und fallen uns deswegen mehr auf. Wir gehen nicht mehr achtlos an ihnen vorüber und vergessen sie sofort wieder, sondern sie treten sehr klar als Gegenstand der Auseinandersetzung in unser Bewusstsein. So in etwa begann es mir mit dem Phänomen der »Fühltaubheit« und der damit einhergehenden starken Rücknahme von Bindungsenergie gegenüber anderen Menschen zu gehen. Ich begann, den Beziehungskosmos, die Liebesbeziehungen der Menschen um mich herum, auf ihre Feinmechanik hin zu durchleuchten. Wie legten meine Freunde und Bekannten, wie Menschen, denen ich in Alltagskontexten und nicht im Therapiezimmer begegnete, ihr Lieben an? Welche Rolle spielte es in der Gesamtkonstruktion ihres Lebenskonzepts? Was waren ihre Schlüsse und Resümees zum Thema Liebe?

      Mathilde lerne ich bei einem Galaabendessen kennen, der Auftaktveranstaltung für ein großes Frauenevent am nächsten Tag, zu dem ich als Podiumsdiskutantin geladen bin. Jede Menge Small Talk also, während wir Häppchen auf überdimensionalen Tellern nach dem Protokoll einer zwanghaft kreativen Speisekarte verzehren. Jeder Gang wird extra angekündigt und die Verlesung braucht ungefähr so lange, wie es dauert, sich das Kunstwerk einzuverleiben. Doch mit Mathilde wird es wirklich interessant. Eine dynamische, attraktive Frau, im Styling erste Sahne, gerade noch unter der 40er-Marke, über die hinaus erfolgreiche Frauen nicht altern dürfen. »Talkative« nennt man den Typ. Darum hat sie es in der Medienbranche auch weit gebracht. Bis nach dem »Gruß aus der Küche« und der »Kaltschalensuppe«, die mich irgendwie an den viel würzigeren Gurkensalat der Badeausflüge meiner Kindheit erinnert, haben wir ihren beträchtlichen Karriereweg durchgekaut. Die Branche ist hart, verlangt einem viel ab, da darf es kein Zaudern geben und permanenter Einsatz ist eine Grundvoraussetzung, aber noch lange nicht Garantie für Erfolg. Als das »Wolllämmchen in Kürbiskruste« auf einem exotischen Gemüse serviert wird, sind wir in den privaten Bereich vorgedrungen. Mit Kindern hat Mathilde nichts am Hut, viel zu aufwändig, viel zu unsicher als Zukunftsinvestition, also eine klare Behinderung. Als sie erfährt, dass ich vier Kinder habe, mutiere ich zur Bewohnerin einer anderen Galaxis. Das bringt uns dann zum Thema Beziehungen. Auch hier winkt Mathilde ab. Selbst in der besten Verpackung steckt ein fauler Inhalt, das ist ihr Resümee. Alltag, Interessenungleichheit, abschlaffender Sex, schlechte Angewohnheiten. Schmetterlinge im Bauch, die nach kurzer Zeit nur mehr fad herumknotzen statt heftig zu flattern. Zähe Verhandlungen über Zahnpastatuben und Haushaltsaufteilung haben sie eindeutig kuriert. Heute sind Männer nur mehr »Appetithäppchen« für sie, durchaus auch mal ein geregelteres »Sexualkombinat« für mehrere Monate, weil das Mühe spart. Aber nach klaren Spielregeln und ohne Herzflattern oder Verbindlichkeit. So richtig nahe lässt sie keinen Mann mehr ran. Und wenn grad keiner an der Hand ist, stört es sie auch nicht, wie sie mir über das bauchige Rotweinglas hinweg konspirativ erklärt, denn selbst ist die Frau. Ansonsten legt sie für ihre Altersvorsorge zurück, was sicher vernünftig ist und mir mit meinen vier Kindern so ziemlich verwehrt bleibt. Sie treibt rasend viel Sport, weil auch dies vorsorgend ist, und macht sich Sorgen ums Älterwerden. Ihre wirkliche Leidenschaft sind romantische Soaps. An Wochenenden bunkert sie sich manchmal ein und zieht sich ganze Staffeln mit Prosecco und Chips hinein. Was natürlich weniger gesund ist, aber irgendwie unvermeidbar, fast zwanghaft, wie sie bekennt. »Dann heul ich Rotz und Wasser«, gesteht sie mir beim vierten Rotweinglas. »So schön, so innig, aber leider alles nur im Kino!« Mathilde lehrt mich an diesem Abend einiges zum Thema »akzeptierte Desillusion als Lebenskonzept«. Doch ich lasse mich, ganz außer Dienst, über ein unspezifisches »Hm« hinweg dazu verführen, ihr heftig darin zu widersprechen, dass all das, was sie da sieht, nur Fiktion ist und mit realem Leben nichts zu tun hat. So fragt sie mich nach dem Dessert nach meiner Karte.

      Ein paar Wochen später ergibt es sich, dass ich in meiner Praxisküche mit meiner ältesten Tochter sitze und Kaffee trinke. Ich habe gerade eine Arbeitspause eingeschoben, und sie wartet auf eine Freundin,

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