Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger

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Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger

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dass es nicht der richtige ist, dann ziehst du dich rasch von ihm zurück«, versuchte ich ihre Aussage ins für mich richtige Fahrwasser zu bringen. Doch Gina machte mir deutlich, dass es sich hier nicht um eine Notfallstrategie nach einer Fehleinschätzung in der Wahl eines Jungen, sondern um ein Grundkonzept handelte. »Ich mach das mit jedem so«, beharrte sie.

      Ihre Freundinnen nickten. Ich bekam das Gefühl mit einer neuen Kulturnorm konfrontiert zu sein. »Aber entschuldige«, widersprach ich, »wie ist das mit dem Sich-Verlieben? Kommt das nicht vorher oder zumindest dann, wenn man miteinander geht?«

      »Nein«, bekräftigte sie ihren Ansatz, »das lass ich gar nicht aufkommen.«

      Ich schob meinen Teller endgültig von mir weg, zündete mir eine Zigarette an und dachte kurz nach. Gina kannte ich seit dem Kindergarten. Auch Anna und Zora, die jetzt ihrerseits dieses Konzept zu verteidigen begannen. Sex und Liebe hat schlichtweg nichts miteinander zu tun. Sex ist fun, Sex konsumiert man, das war die Aussage. Sie verabredeten sich bisweilen auch dazu, ganz cool und nüchtern, nachmittags nach der Schule. Natürlich wussten das die Eltern nicht, die kein Zitronenbrathuhn servierten. Zur Bekräftigung der Theorie erzählte Anna von einem »süßen Typen«, der einfach echt super aussah und den sie deswegen haben wollte. Sie hatte sich mit ihm ein Date abgemacht, das schon in seiner Planung ganz offen die Zielsetzung, miteinander zu schlafen enthielt. Genau genommen war sie nach der Schule zu ihm gekommen, sie hatten sich ausgezogen und es gemacht, und dann war sie wieder gegangen. Peng, das wars. Erledigt. Annas Beschreibung ihres Nachmittags und vor allem des Zugangsmodus schien hier am Tisch niemanden wirklich vom Sessel zu hauen. Ich sah mir die Mädchen so an, wie sie vor mir saßen. Ich kannte auch ihre Eltern, lauter »normale Familien«, wirtschaftlich zumeist etwas besser aufgestellt, engagierte Eltern, die für ihre Kinder immer das Beste wollten. Natürlich die üblichen Schwierigkeiten von einer geschiedenen Ehe hier oder dort, beide Eltern berufstätig, allesamt gefügte Persönlichkeiten und in ihrem Erziehungsverhalten diskussionsbereit und reflektierend. Sie hatten versucht, von klein auf der Persönlichkeit ihrer Kinder Entwicklungsspielraum zu geben.

      »Aber WIE, Gina, wie um alles in der Welt schaffst du das?«, entschied ich mich, das Krisenfeld Anna vorerst beiseite zu lassen und mich Ginas Dogma zuzuwenden. Sicher wirkte ich ziemlich entgeistert. »Wenn ich mit einem Mann schlafe, dann passiert dabei mehr als nur Erregung, und im Idealfall schwingt mein Herz schon mit, wenn ich es das erste Mal mit ihm tue. Es ist für mich ein Ausdruck eines Prozesses zwischen mir und diesem Menschen. Auch wenn das keine lange Beziehung werden sollte, weil sich herausstellt, dass er oder ich Einwände haben oder wir etwas in Folge des ersten Überstrahlens durch die leidenschaftliche Anziehung übersehen haben, so ist da doch diese Grundintention nach Bindung und Beziehung.«

      Jetzt wirkt Gina vollkommen entgeistert. »Ich will ganz sicher mit keinem Jungen fix gehen. Das tut nur weh, und du hast ihn die ganze Zeit in deinem Kopf. Ich will da nichts entwickeln, ich will einfach Spaß haben und das alles machen und erleben, was es gibt.«

      Auch hier nickten Anna und Zora bekräftigend. Ich war verunsichert, ob es sein konnte, dass es meine Tochter jetzt vielleicht nur deswegen unterließ, ihre Akzeptanz dieser Haltung auszudrücken, weil ich am Tisch saß.

      »Aber WIE machst du das?« fragte ich nochmals nach.

      »Ich sag mir einfach immer sofort danach, dass es jetzt aus ist, dass es nur Sex war und ich nichts von dem Jungen wissen will. Ich rede kaum mit ihm, und wenn ich merke, dass er mir gefällt, schlaf ich einfach mit einem anderen, um ihn aus meinem Kopf zu bekommen. Es ist ja nur Sex, das heißt doch nichts.«

      »Hm«, kapitulierte ich und schob noch etwas in der Art nach, dass ich mir das schlecht als längerfristig taugliches Modell vorstellen könne, um über diese Einführung einer Zeitachse mit meiner Seniorität wieder Oberhand zu gewinnen. Als ob ich sagen würde: »Wart mal, Kleines, bis du so alt bist wie ich.« Im Prinzip im Kern eine unfaire Ansage, da ich ihr damit die Gleichwertigkeit ihrer Meinung zu rauben versuchte. In Wirklichkeit fühlte ich mich hilflos. Es spürte sich an, als würden sich Eiskristalle auf mein Herz legen und meine Brust einfrieren. Sexualität und Bindung voneinander abzuspalten, so früh, so jung, ganz am Anfang beim Eintritt ins Beziehungsleben, sozusagen als Grundmodus oder allgemeine Kulturnorm einer Entemotionalisierung. Sexualität nicht mehr als tiefe und sehr persönliche Kommunikation mit einem speziellen Menschen sehen zu können, besorgte mich in dieser Konzeptform. Hier ging es nicht darum, dass jemand von Leidenschaft überrannt wurde oder das Gegenüber falsch eingeschätzt hatte. Oder dass jemand sich vielleicht einmal so fühlte, wie es der Volksmund als »notgeil« benennt, und sich in einer sexuellen Situation wiederfindet, die sich auf der Bindungsebene dann nicht als tragfähig erweist. Hier ging es darum, diese Bindungsebene gar nicht mehr anzustreben, aus Prinzip. Diese grundsätzliche Abspaltung der Sexualität von Intimität und emotionaler Öffnung und die damit verbundene Reduktion auf ein Konsumerlebnis, eine Jagdtrophäe, fühlte sich für mich sehr unbehaglich an. Wo würden denn die Bindungsbedürfnisse dieser jungen Mädchen gestillt werden, wenn sie über dieses Konzept nicht hinauswuchsen? Wie würden sie ihre Geborgenheit finden? Was wären die Konsequenzen, was der Preis, für diese dahinterliegende Wehleidigkeit, sich den möglichen Schmerz des Verlassenwerdens ersparen zu wollen? Würde Anna, deren Stofftiersammlung mir meine Tochter nach einem Besuch erst kürzlich beschrieben hatte, ewig mit ihren Kuscheltieren zu Bett gehen? Würden sie Karriere machen und wie Mathilde ihre Wochenenden dann mit ganzen Staffeln von Soaps zubringen? Oder würden sie ewige Anhängsel ihrer Familien bleiben, so wie Mark es heute schon in Perchtoldsdorf bei seinen Eltern war? Würden sie noch in zehn oder 15 Jahren als gewiefte Jägerinnen nach Dienstschluss durch die Bars und Nachtlokale auf der Suche nach dem nächsten Blattschuss ziehen, sich die aufkeimende Einsamkeit mit Schuh- oder Handtaschenkäufen wegblasen wollen? Oder würden sie diesen Betriebsfehler, der ihnen, weiß Gott wie, verpasst worden war, doch überwachsen können?

      In dieser Nacht schlief ich schlecht, obwohl Hühnchen der Nimbus von Schonkost anhaftet. Das abendliche Gespräch mit den Girls ließ mich nicht los. Gegen zwei Uhr Früh fand ich mich dann in meiner Küche wieder und versuchte die Puzzleteile meiner bisherigen Ergebnisse und Einsichten zu ordnen.

      Die Stille der Nacht und die mich umgebende ruhende Stadt bildeten einen wirksamen Hintergrund, um all die Erlebnisse und Gespräche der letzten Monate zu rekapitulieren und Patientenkarteien durchzugehen. Wie ließen sich die unterschiedlichen Teile in Bezug zu einander setzen? Wie stellte sich das Thema Lieb aus dem gesellschaftlichen Blickwinkel heute denn eigentlich dar? Bei Ralfs Lebensgeschichte oder auch der von anderen Patienten war jemand mit ungeübtem analytischem Blick doch eigentlich geneigt zu attestieren, dass seine tiefere emotionale Unerreichbarkeit eben die Auswirkung eines »blöd gelaufenen« Lebenskonflikts wäre. Dass aus der damit abzuleitenden emotionalen Enttäuschung und Erschöpfung ein solider Rückzug aus dem Gefahrenfeld tieferer Bindungen und möglicher Neuenttäuschungen resultierte, mutete aus der heutigen Perspektive eines rationalen, fest im Leben stehenden modernen Menschen doch fast nachvollziehbar, ja logisch an. Genauso wie die Tatsache, dass dieser Mann sich kurzweilig zu beschäftigen wusste, noch dazu auf Luxusniveau durch das entsprechende Kleingeld. Der ihn verfolgende Albtraum war vielleicht als ein bedauerlicher Kollateralschaden zu sehen, dem man am besten mit der Angebotspalette der Pharmazie beikommen konnte. Und auch für Elisabeth gab es eine anfeuernde Schar von Freundinnen, die es völlig in Ordnung fanden, den »Mann vom Reißbrett«, der es ganz nach ihren Erwartungen bringen musste, mit ihr zu designen, genauso wie Birgits »Dreierregel« in ihrem Umfeld auf durchgreifende Akzeptanz stieß. Da war kaum einer dabei, der ihr ins Gewissen redete, um ihr deutlich zu machen, dass ihre eigentlichen, tieferen Bedürfnisse nach Wärme und Geborgenheit mit dieser Strategie kaum realisierbar sein würden. Und gleichzeitig, so war mein Empfinden, offenbarte sich hier, an der Art und Weise, wie wir geneigt sind, Ralfs, Elisabeths oder Birgits Situation und die jeweilige Strategie als richtig, ja unvermeidlich zu akzeptieren, bereits ein haltungsmäßiger Drift hin zur Akzeptanz von Gefühlsdämpfung als Lebensmodell. Letztendlich ein erster Klang einer gesellschaftlichen Haltung der Resignation, was unseren kollektiven Glauben an Liebesbeziehungen betrifft.

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