Die Burnout Lüge. Martina Leibovici-Mühlberger

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Die Burnout Lüge - Martina Leibovici-Mühlberger

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schließlich in einer Zeit, in der Psychotherapie noch den Nimbus von Unanständigkeit hatte und nahezu jeder gestandene Psychiater, dem sein Ruf als ernstzunehmender Mediziner wichtig war, darauf achtete, lautstark einen weiten Bogen um dieses unseriöse Ding zu ziehen. Abgesehen von wenigen Mutigen, denen allerdings viel zu verdanken ist, wurde mit den neuen Ansätzen von Gestalttherapie, Psychodrama, Gesprächspsychotherapie, Gruppendynamik oder gar Körpertherapie nur heimlich kokettiert. Fürs „Reden“ gab es schließlich den Gewerbeschein „psychologische Beratung“, den jeder, vom Andenkenverkäufer über die berufene Hausfrau bis zum Tierpfleger, anstandslos lösen konnte.

      Meine Faszination war perfekt, wenn ich unseren Patienten lauschte, während sie eine immer andere und trotzdem auf magische Weise immer gleiche Geschichte ihres Verfalls beschrieben. Meine Ratlosigkeit allerdings auch. Was war mit diesen Menschen geschehen, die jetzt vielfach wie ein Schatten ihrer selbst auf unseren Gängen herumschlichen, sich wie Frischoperierte nur mit Begleitung bis in den Garten vorkämpften und einen zu ihren Laborparametern so widersprüchlich hoffnungslosen Gesichtsausdruck trugen. Das waren doch vielfach Menschen, die es, wie man so sagte, in ihrem Leben zu etwas gebracht hatten, Manager, Schauspieler, Wissenschaftler, Ärzte, Rechtsanwälte mit großen Kanzleien, Unternehmer oder solche aus der Klasse von Reich und Schön. Was konnte schon in so einem Leben so schief gehen, dass sie alle meinten, einfach nicht mehr weitermachen zu können? Oder waren hier vielleicht endogene, möglicherweise genetische Faktoren im Spiel, die bei Erreichung irgendeiner unsichtbaren Zeitmarke magisch darüber entschieden, ob der eine einer langanhaltenden Arbeitsbelastung gewachsen war, während der andere davon in unverhinderbarer Weise arrodiert und durch die Arbeitswelt zur Strecke gebracht wird? Ging es darum, Menschen mit Schutzfaktor von jenen mit einem Gefährdungsfaktor unterscheiden zu lernen, um dies eventuell in die Berufs- und Karriereplanung mit einbeziehen zu können? War es vielleicht an der Zeit, der bitteren Wahrheit ins Auge zu blicken, dass sich schlichtweg nur „Träger des egoistischen Gens“, (Dawkins vulgärevolutionistische Haltung war damals als Erklärungsmodell äußerst en vogue) für Spitzenpositionen eigneten?

      Auch heute bin ich der festen Überzeugung, dass es „Schutzfaktoren“ gegen Burnout gibt, die immunisieren. Allerdings finden sich diese nicht auf einem gefällig niederzunagelnden Genlocus, sondern in einem auf den ersten Blick komplex anmutenden, jedoch grundsätzlich jedem zugänglichen Mindset begründet.

      Die Krux an der Sache liegt darin, dass es massive Interessen gibt, alles so zu belassen, wie es ist. Personalisiertes Burnout, das heißt der persönliche Zusammenbruch von einzelnen Personen, ist der Gesellschaft lieber, als die wirklichen Ursachen zuzugeben. Aber Burnout ist nicht das Ausbrennen von einzelnen Individuen, die – das dürfen wir uns dann in der Gewichtung aussuchen – entweder persönlich zu wenig belastbar sind oder von einem inadäquaten Anforderungsberg erschlagen worden sind, obwohl es immer so aussieht. Das ist nur die Burnout-Lüge, die unsere Gesellschaft erfunden hat. Die Sache geht viel tiefer, erwächst direkt aus unserem innersten Betriebssystem, und dort soll nach Möglichkeit keiner hinschauen, hinfühlen oder gar hindenken. Die Burnout-Lüge soll uns vom eigentlichen substantiellen Problem des drohenden Systemkollaps ablenken, dem Gesellschaftsburnout und seinen wirklichen Gründen. Der einzelne Burnout-Patient ist sensibler Protagonist und „blinder Seher“ der zu Grunde liegenden, unsere Zukunft vernichtenden tektonischen Verschiebungen im Untergebälk unserer tragenden Gesellschaftsstruktur. Er wird belächelt oder bedauert und rasch in den Hinterhof eines mechanistisch-reduktionistischen Medizinsystems geschickt. Dabei wird auch nicht darauf vergessen, ihn selbst noch vielfach zu kommerzialisieren.

      Doch all dies war mir damals nicht einmal in Ansätzen klar. Auch ich erlag dem simplen Charme des Erklärungsmodells der Überarbeitung, das noch dazu von jedem Patienten durch seinen Bericht, sich den Arbeitsbelastungen nicht mehr gewachsen zu fühlen, Ohnmacht vor einem als unüberwindbar aufgetürmten Berg von Anforderungen zu empfinden, genährt wurde. Also entwarf auch ich mit meinen Klienten „Arbeitsbelastungsreduktionspläne“, Dienst nach Vorschrift, Modelle oder Delegationsstrategien, die, würden sie auch andere, die die Mehrarbeit zu tragen hatten, unter enormen Druck setzen, zumindest meine Klienten möglichst freispielen sollten.

      Parallel dazu widmete ich mich der Fahndung nach Risikooder Schutzfaktoren und war vor allem an der Prozesshaftigkeit der Entwicklung des Burnout-Syndroms interessiert. Es erschien mir immer wie ein Eisberg, dessen oberste Spitze lange schon aus dem Wasser ragt und dessen gewaltige, verborgenen und erschreckenden Eismassen irgendwann schließlich von Geisterhand über die Wasseroberfläche gehoben werden, um dann den gesamten Lebensraum auszufüllen. Was war die Kraft, die das zustande brachte?

      Das sollte mich noch einige Jahre mit weiteren tastenden Arbeitshypothesen in meiner Praxis beschäftigen…

      Burnout – aber wovon reden wir hier eigentlich wirklich? Der apokalyptische Reiter am Horizont

      Markus ist gerade 38 Jahre alt geworden und hat alles erreicht, was man sich in diesem Alter wünschen kann und worauf man nach einem Abschluss summa cum laude und entsprechenden Postgraduate-Studien an einer amerikanischen Eliteuniversität hoffen darf. Ein schmuckes Innenstadtappartement in Frankfurt, weil dort das Hauptbüro seines Dienstgebers, eine global operierende Unternehmensberatung, stationiert ist, jede Menge maßgeschneiderter Anzüge, den obligaten Sportwagen, Vorgesetzte, die ihn rund um den Globus hetzen und dabei große Stücke auf sein Verhandlungstalent, seine Lösungskompetenz und seine „behavioural flexibility“ halten. Sein innerbetriebliches strategisches Beziehungsmanagement ist großartig und immer am Puls der Zeit. Nie sieht man ihn mit den „falschen Leuten“ ein Bier nach Dienstschluss trinken, der sowieso weit in den Nachtstunden liegt. Markus ist ein Mann mit Zukunft, nicht nur mit genagelten Schuhen.

      Markus ist aber seit einiger Zeit auch ein Mann mit einem Problem, das so ernste Dimensionen anzunehmen droht, dass mich dieser Strahlemann, der jederzeit bei einer Football-Mannschaft anheuern könnte, nach einem Vortrag anspricht und um einen Termin in meiner Praxis bittet. In dem, was ich gerade beschrieben habe, würde er sich zu genau abgebildet wiederfinden, um noch weiter wegsehen zu können. Jedes Telefonat wäre schon längst eine Qual für ihn, jede Auslandsreise ein Martyrium, und das, wo er zumindest zweimal die Woche nach Wien und von dort oft noch weiter in den SO-europäischen Raum fliegen müsse. Zumindest hätten wir auf diese Weise keine Probleme bei der Terminfindung, wenn ich flexibel mit Randzeiten sein könnte, meint er. Außerdem würde ich das Ganze dann ja sozusagen gleich „live“ erleben und behandeln können.

      Er befürchtet nämlich, dass er sich so etwas wie eine Flugneurose zugelegt hat. Er durchläuft immer ärger werdende Panikattacken, sobald er in den Flieger steigt. Bis jetzt ist es ihm gelungen, das Ganze zu verbergen, aber wenn er sein Grundgefühl beschreiben müsste, so ist es, als würde seine gesamte Energie aus ihm herausfließen. Er fühlt sich zunehmend leer, ausgehöhlt. Schon morgens beim Aufwachen kommt ihm der Tag wie ein unüberwindbarer Berg vor, der drohend vor ihm steht. Hartnäckige Rückenschmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule quälen ihn nahezu den ganzen Tag und haben ihm das Jogging verleidet. Aber auch das scheint bereits egal, er findet sowieso nicht die Kraft, sich dazu aufzuraffen. Eigentlich möchte er sich nur mehr verstecken, mit niemandem reden müssen, die Decke über den Kopf ziehen, keine Präsentationen mehr halten oder Verhandlungen führen und dabei noch souverän wirken. Natürlich hat er sich mit Aufputschmitteln beholfen und in den letzten Monaten auch eindeutig zu viel Koks konsumiert, aber dieses Sinnlosigkeitsgefühl, das aus der Tiefe in ihm aufzusteigen droht, ist so unerträglich …

      Und da ist dann noch die Sache mit Sabine, ursprünglich eine bequeme erotische Freundschaft in Wien, ohne feste Bindungsabsicht mit wechselseitigem Einverständnis der sexuellen Gebrauchskultur schwer beschäftigter Karrieremenschen. Sabine ist jetzt schwanger und hat ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass sie mit 36 Jahren und im Hinblick auf das Karriereplateau, das sie erreicht hat, den Zeitpunkt für günstig hält und das Kind bekommen wird. Gleichzeitig damit hat sie ihn, Markus, entsorgt-fairerweise ohne weiteren Alimentationsanspruch. Er ist also ein Samenspender ohne weitere Verwendung.

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