Die Burnout Lüge. Martina Leibovici-Mühlberger
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Sechs, zugegeben ausgesuchte, Fallgeschichten aus meiner Praxis. Sechs Lebensgeschichten nenne ich das lieber, obwohl ich mit dem Nomenklaturwechsel von „Fallgeschichte“ zu „Lebensgeschichte“ das professionelle Terrain der Ärztin und Psychotherapeutin zu verlassen drohe und auf etwas schlüpfrigen Boden gelange, wenn ich nicht mehr in erster Linie die Person als Fallgeschichtenträger sondern auf sehr persönliche Art einen Menschen mit seinem Erleben vor mir sehe.
Wenn wir Mediziner uns einem Sachverhalt nähern, und das kann dann auch eine Erkrankung, ein ganzer Körper, beziehungsweise ein Teil davon sein, oder auch ein Patient, so erfolgt dies auf beschreibende Art. Diesem deskriptiven Modell haftet der Nimbus von Objektivität, Mess- und Wägbarkeit, also nach landläufiger Meinung von Wahrheit an. Außerdem schafft es Distanz zum Gegenüber. Auf diese Art bringen wir Licht ins Dunkel des Geschehens, denn diesem reduktionistisch-mechanistischen Ansatz liegt die Idee zu Grunde, dass, wenn wir alles immer weiter bis in seine Einzelteile, möglichst bis ganz runter auf atomare oder gar subatomare Ebene zerlegen und beschreiben, es also katalogisieren, wir die letztendliche Erkenntnis zum „So-sein“ des vorliegenden Dings vor uns liegen hätten.
Diese Überzeugung hält eine Menge Vorteile bereit, allerdings auch ein paar gravierende Nachteile. Doch es ist wie mit Versicherungsverträgen. Auf den ersten Blick eröffnet sich alles als gefügt und sicher, nahezu ideal, die deckungsfreien Eventualitäten finden sich nur im Kleingedruckten, das man erst dann liest, wenn es zu spät ist. Der Faszination, mithilfe dieses Denkmodells Kontrolle und Sicherheit, ja letztendlich Macht über Erkrankungen zu erlangen, entzieht man sich als Arzt nicht leicht, noch dazu wo doch die meisten von uns in ihrer psychischen Grundstruktur in der einen oder anderen Art eine vergleichsweise hohe Sehnsucht gerade nach dieser Macht mitbringen.
Außerdem kann man sich Fallsammlungen anlegen, über die Liebe zur Klassifikation scheinbare Ordnung schaffen, eine gemeinsame kollegiale Fachsprache entwickeln, an den Kanten dieses Modells immer weiter forschen und sich dabei habilitieren und bei Kongressen zum Wohl der versammelten Ärzteschaft und der abwesenden Patienten berichten. Es wundert also nicht, dass das Studium der Medizin, die ja bekanntlich heute unbestritten zu den Naturwissenschaften zählt, sein Jungvolk bereits vom ersten Tag an genau auf dieses Modell einschwört. Auf die Bibel des reduktionistischen Mechanismus muss der unbedingte Treueeid abgelegt werden. Wer hier zweifelt ist ein Ketzer, der die Klippen hinuntergestoßen wird. Und dabei hat die Medizin doch einmal ars medicinae geheißen…
In anderen Worten gesprochen: der Anilinarbeiter, der gegen Ende seiner Berufslaufbahn Hodenkrebs bekommt oder der schwere Raucher mit seinem Emphysem, das die Zielsetzung in den ersten Stock zu gelangen einer Mount Everest Besteigung gleichsetzt, sind uns lieber als die 38-jährige schlanke Nichtraucherin, deren plötzliche Beschwerden von einem Lungenkarzinom herrühren, obwohl wir bei ihr nicht einmal eine genetische Prädisposition ausmachen können. Die beiden ersten Fälle entsprechen unserem Kausalverständnis und Denkmodell von Krankheitsverursachung, der letzte Fall lässt uns ratlos zurück und ist uns peinlich. Burnout ist deshalb eine harte Herausforderung an unser Medizinestablishment, ja, wie keine andere Erkrankung eine laute und deutliche Infragestellung des unserem Denkmodell zu Grunde liegenden Paradigmas.
Das beginnt schon mit der Diagnose, also dem Versuch einer eindeutigen Feststellung, was Burnout wäre und was etwas anderes, zum Beispiel eine Depression sei. Der britische Taxonom John S. Kendall soll einmal gemeint haben, dass die Taxonomie (die systematische Erfassung der in der Natur vorkommenden Lebewesen und Strukturen, vergleichbar mit einem riesigen Karteikasten, in dem alles sein systematisiertes Fach erhält) die Kunst wäre, die Natur an ihren Gelenken zu zerteilen. Um in diesem Bild zu bleiben, stellt sich beim Burnout ganz rasch die Frage: Wie zerteilt man eine Qualle an ihren Gelenken?
Abgerichtet nach der verbindlichen Denkstruktur aller jungen Ärzte, wenn auch mit heimlichen Zweifeln, die mich immer ein wenig in den Gärten der neuen psychotherapeutischen Schulen grasen ließen, näherte ich mich ursprünglich dem Verständnis von Burnout mit der geforderten logischen, deskriptiven Methodik. Das heißt, ich stellte mir bei meinen PatientInnen die Frage, ob die „richtigen Symptome“ zu erheben wären, die die entsprechenden Kriterien eines Burnouts befüllen konnten, verglich, was bei den einzelnen Fällen gleich und was anders und eventuell ein Ausdruck von Variabilität wäre, ohne damit schon aus dem Diagnosekatalog herauszuragen, und versuchte das Phasenhafte, das mir besonders wesentlich im Hinblick auf die Prognose erschien, zu erfassen.
Ein genauso faszinierendes wie gleichzeitig frustrierendes Unterfangen, denn immer wieder schienen mir die mühsam herausgearbeiteten Gesetzmäßigkeiten anhand eines „neuen Falls“ zwischen den Fingern zu zerrinnen. Es war wie Spiegelfechterei. Kaum hatte ich scheinbar eine verbindliche Regelmäßigkeit isoliert und beim Schopf gepackt, entwand sie sich meinem Zugriff wie ein Aal und es blieben wieder nur unspezifische Gemeinplätze, wie die „Arbeitsüberlastung“ über. Gleichzeitig war die Diagnose Burnout bei jedem Patienten eindeutig zu stellen. Es ging mir genauso wie Richard Bolles, der einmal zugab: „Burnout ist wie Pornographie. Ich weiß nicht genau, ob ich es wirklich definieren kann, aber wenn ich es sehe, erkenne ich es sofort.“
Doch warum dieser Mensch und warum an diesem Arbeitsplatz? Wenn man einen Faden einer gewissen Zugkraft aussetzt, die seine Tragfähigkeit übersteigt, so reißt er irgendwann planmäßig. Das lässt sich todsicher immer wiederholen und zwar mit jedem Fadenstück desselben Knäuels beim immer selben Belastungsmaximum. Das galt aber nicht für alle Beschäftigte ein und desselben Unternehmens. Und was der eine als Arbeitsüberlastung beschrieb, bedeutete für den nächsten noch gar nicht einmal richtig in die Gänge gekommen zu sein. Eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung war also nicht auszumachen.
Zumindest schien sich für mich in meiner persönlichen Hypothesenbildung ein nachvollziehbarer und erwartbarer Stadienablauf abbilden zu lassen. Warum wer wann und in welchem Berufskontext an Burnout erkrankte, blieb mir zu diesem Zeitpunkt wie allen anderen, die nicht bereit waren, sich mit Schnellschüssen zufriedenzugeben, zwar weitgehend noch ein Mysterium. Aber wie diese Erkrankung verlaufen würde, welche Phasen sie durchlief und wo ihr Endpunkt liegen würde, das und eine damit verbundene Ernsthaftigkeitseinschätzung für den Therapieansatz ließ sich wenigstens immer deutlicher umgreifen.
Wer einmal auf die schiefe Bahn kommt, wird immer schneller
Allen Burnout-Patienten gemeinsam ist eine am Anfang gelebte Haltung von enormem Engagement, Begeisterungsfähigkeit und hoher Beteiligung. Irgendwann ist das die Eintrittspforte zum inneren Wunsch, unbedingt erfolgreich sein zu wollen, sich über äußeren Erfolg definieren zu müssen, eine fatale, wenn auch zumeist unbewusste Entscheidung, denn daraus resultiert ein sich immer weiter aufbauender Druck, ja man könnte es durchwegs auch Zwang zum Erfolg nennen, dem letztendlich für die Erreichung dieses Ziels nichts zu teuer ist, und sei es die Vernachlässigung eigener Bedürfnisse.
Michael hat schon als junger Arzt und natürlich unter dem Deckmantel der „Unersetzbarkeit für seine Patienten“ sowie gesellschaftlichem Schulterklopfen, seine Bedürfnisse grob hintanzustellen begonnen, Sonja hat sogar ihren Kinderwunsch verleugnet, um entsprechend zu „funktionieren“, und Markus wird einiges an Therapie brauchen, um von seiner Verbissenheit beim Erreichen gesteckter Ziele lassen zu können, ohne damit gleichzeitig das Gefühl zu entwickeln, seine Lebensberechtigung verwirkt zu haben.
Aber seien wir ehrlich, und spüren wir alle jeder für sich an diesem Punkt nach Resonanz in unserem Inneren. Wer von uns hat in dieser Welt, die viel darin investiert, uns glauben zu machen, dass materieller Erfolg mit Lebenserfolg gleichzusetzen ist,