Die Burnout Lüge. Martina Leibovici-Mühlberger
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Eine knappe Woche später sitzt mir eine abgekämpfte, unrastige Frau gegenüber, deren Verzweiflung auch für den ungeübtesten Beobachter greifbar wäre. Roswitha ist 48 Jahre alt, hat eine erwachsene, studierende Tochter, lebt mit Kurt, der Pädagoge ist, seit seiner Scheidung vor sechzehn Jahren in einer Lebensgemeinschaft und ist ebenfalls Pädagogin in einer Berufsschule. Die Schule hat sie ausgehöhlt, Schicht für Schicht aus ihr herausgekratzt, und jetzt ist nur mehr eine dünne Hülle von ihr da, entwirft sie ein Bild, das ihren Zustand illustrieren soll. In den Jahren davor ist es noch gegangen, doch die letzten Monate haben sie nun endgültig in die Knie gezwungen. Ich bitte sie, zu erzählen, und höre eine seltsam anmutende Geschichte, die eigentlich ein Anti-Burnout-Programm einer kooperativen, Burnout-präventiven Organisation sein könnte. Bis auf ein paar sehr persönliche Kleinigkeiten.
Ursprünglich hat Roswitha mit großer Freude die Gelegenheit ergriffen, vor zweiundzwanzig Jahren in die Berufsschullehrerlaufbahn einzutreten, statt den ungeliebten väterlichen Betrieb mit all den bestehenden Problemen mit den Angestellten, dem Pachtvertrag für die Betriebsstätte und den anspruchsvollen Kunden alleine weiterführen zu müssen. Ihr Vater hatte sie, die sich eigentlich für Kunst, Musik und Ballett interessierte und auch seit ihrer Kindheit im Ballett der Oper getanzt hatte, mit Ende der Schulpflicht und gegen ihren Protest in den entsprechenden Lehrberuf gesteckt, damit sie den florierenden Betrieb einmal weiterführen sollte. Schließlich war er sich und allen anderen der Fachgruppe dies als Innungsmeister schuldig. „Da kann das einzige Kind nicht blöd herumhupfen.“ Statt Ballettschuhen gab es fortan nur mehr Arbeitsschuhe mit dicker Profilsohle an Roswithas Füßen. Doch Roswithas Vater, der neben seiner Geschäftstüchtigkeit und der Geradlinigkeit seines Weltbilds, besonders unter Alkoholkonsum, auch häufige tyrannische, cholerische Attacken und einen damit verbundenen stark erhöhten Blutdruck zu bieten hatte, erlag vorzeitig einem Schlaganfall, sodass Roswitha ziemlich unvorbereitet den väterlichen Betrieb alleinverantwortlich übernehmen musste. Bisher hatte sie der Vater trotz ihrer bereits mit Bravour bestandenen Meisterprüfung auch vor allen Angestellten wie das letzte Lehrmädchen behandelt. Jetzt sollte sie plötzlich die Chefin für eine Truppe von dreißig Arbeitern sein, die lange Zeit unter einer autoritären Führung gelitten hatten. Dazu kam ihre Verpflichtung für ihre zweijährige Tochter, die zwischen Büro, Kundenbesuchen und Werkhalle aufwuchs. Der Kindesvater hatte sich rasch als ein unzuverlässiger und vorwiegend gegenüber anderen Frauen charmanter Typ erwiesen, dessen größte Kompetenz darin lag, Geld für seine diversen Unternehmungen aus der Betriebskasse zu entnehmen.
Das Angebot, in die Berufsschule zu wechseln, erschien Roswitha daher wie ein Geschenk des Himmels. Die Arbeitsstunden muteten läppisch an, im Vergleich zur Achtzig-Stunden-Woche, die sie gewöhnt war. Neun Wochen Urlaub im Sommer, Weihnachtsferien, Osterferien, Fenstertage – aus Roswithas bisherigem Blickwinkel weniger als ein Halbtagsjob. Auf das Unterrichten freute sie sich. Als Betriebsleiterin hatte sie immer ein besonderes Naheverhältnis zu den Lehrlingen gespürt, einen auffallend guten Draht zu ihnen gehabt, auf sie eingehen und so manchen Obstinaten davon überzeugen können, dass ein abgeschlossener Lehrberuf besser wäre, als ein Hilfsarbeiter-Dasein. Erstmals seit langem schien die Welt angenehm gefügt zu sein.
Ein paar Jahre später ergab sich an der Schule die Beziehung mit dem gleichaltrigen Kurt, der Roswitha wegen ihres Elans und Optimismus, mit dem sie das Schulleben beflügelte, als seine Traumfrau erkannte, nachdem er sich endlich von seiner schwer depressiven Frau gelöst hatte.
Vor fünf Jahren erlebt Roswitha dann erstmals einen seelischen Einbruch. Sie tritt verfrüht in die Menopause ein und hat massiv mit ihrem Selbstbild als Frau zu kämpfen. Das umso mehr, als Kurt gerade zu diesem Zeitpunkt einen Kinderwunsch äußert, der trotz massiver hormoneller Stimulation als letztendlich unerfüllbar akzeptiert werden muss. Roswitha, die gewohnt ist, sich mit eiserner Disziplin alles abzuverlangen und damit bisher immer erfolgreich war, erlebt sich als Versagende. Gleichzeitig steht das Paar unter enormem finanziellem Druck. Die Schulden für das sehr exklusive Eigenheim sind als ständige Mahnung präsent und Kurt muss seiner Ex-Frau, um seiner Kinder willen, finanziell stärker unter die Arme greifen, als dies die Alimentationsforderungen vorgesehen haben, da diese durch ihre Depression nun endgültig langfristig arbeitsunfähig ist.
Roswitha entwickelt die Überzeugung, funktionieren zu müssen. Alte Gefühle, nicht als eigenständiger Mensch gesehen und geliebt zu werden, sondern nur über die gegebene Leistung Wertschätzung erlangen zu können, tauchen nun sowohl in der Beziehung zu Kurt wie auch in ihrem beruflichen Umfeld auf. Durch ihr weit über ihre fachlichen Aufgaben hinausreichendes Engagement für die Schüler hat sie längst verschiedene Zusatzaufgaben übernommen. War sie früher durch ihre Position als Problemlöserin für die oft in schwierigen sozialen Verhältnissen lebenden Lehrlinge und dem damit im Lehrkörper verbundenen Ruf inspiriert, beginnt sie jetzt zunehmend Entfremdung, Gefühle von Ohnmacht und Sinnlosigkeit zu erleben. Dies erreicht nach einem gemeinsamen Heurigenbesuch des Lehrkörpers in feuchtfröhlicher Stimmung seinen Höhepunkt, als der gemeinsame Tenor der Kollegen unter großem Gaudium eine „Dienst nach Vorschrift“-Haltung und völliges Desinteresse an den auszubildenden Lehrlingen nahelegt.
Es war, als wäre es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, beschreibt sie die Situation. Sie habe sich völlig verraten gefühlt, wie ein lächerlicher Idiot in einem System, das seine Klienten schon lange abgeschrieben und aufgegeben hat. In den Folgemonaten beginnt Roswitha zunehmend vom Rest des Lehrkörpers abzurücken. Ihre Kollegen gehen ihr auf die Nerven, erscheinen ihr verschlagen, unehrlich. Es kommt zum Streit mit einem Kollegen, der allen Schülern, die dem Unterricht nicht folgen wollen, gestattet, sich mit ihren Handys in den hinteren Bankreihen zu beschäftigen. Es ist derselbe Kollege, der die Schularbeitsergebnisse gleichzeitig mit den Angaben ausgibt, um damit die Resultate zu verbessern. So manipuliert funktioniert das System nach außen reibungslos. Roswitha fühlt sich angesichts der duldenden Mitwisserschaft der anderen Kollegen immer mehr an den Rand gedrängt. Gleichzeitig erlebt sie ein Gefühl von Auszehrung und Sinnlosigkeit, wird unleidlich gegenüber ihren Schülern, fühlt sich auch von ihnen ausgenützt. Kurt legt ihr mehr Realismus nahe und rät ihr, sich besser abzugrenzen.
Dann treten morgens auf dem Weg zur Schule in der U-Bahn Angstgefühle auf, die sie immer öfter zwingen, ihren Weg zu unterbrechen. Kurz darauf bilden sich an Schultagen, morgens nach dem Aufwachen, in Minutenschnelle nervöse, juckende Ausschläge im Gesicht, am Hals und im Dekolleté-Bereich. Ein paar Wochen später beginnt Roswitha an hartnäckigen Durchfällen zu leiden und Kreislaufbeschwerden zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt sind die Schule, die Kollegen und die Schüler bereits ein rotes Tuch für sie. Roswitha hat eine zynische, resignative Weltsicht entwickelt, die sie unter Aufbringung größter Anstrengung vor allen zu verbergen trachtet. Alles ist ihr zu viel. Ihr Direktor, der mit Kurt und ihr befreundet ist, versucht sie aus dem Schussfeld zu bringen. Zuerst wird ihre Dienstverpflichtung auf ihren Wunsch hin auf drei Tage zusammengelegt, um ihr genügend Regenerationspausen zu ermöglichen. Von ihren Zusatztätigkeiten, einstmals mit Enthusiasmus übernommen, erfährt sie Entbindung. In einem nächsten Schritt, als sie das Unterrichten als schwer aushaltbare Belastung erlebt, kann sie die Funktion als Klassenvorstand zurücklegen, ihre Stundenbelastung von der Unterrichtstätigkeit zurückfahren und in einen administrativen Bereich verlagern.
In den letzten beiden Jahren umfasst Roswithas aktive Lehrbeauftragung noch vier Unterrichtsstunden. Das System hat in Gestalt des befreundeten, äußerst kooperativen Direktors für maximale Entlastung