Die Burnout Lüge. Martina Leibovici-Mühlberger

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Die Burnout Lüge - Martina Leibovici-Mühlberger

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ist eine bildhübsche junge Frau. Nur dieser etwas leere Gesichtsausdruck, der auf eine langfristige Psychopharmakaeinstellung hinweist, um möglichst emotionsbereinigt durch den Alltag zu kommen, rückt ihre äußere Erscheinung und Geschichte in ein Licht, das die Ereignisse der letzten Monate glaubwürdig erscheinen lässt. Sie hat es nämlich von außen betrachtet total fein getroffen, das große Los gezogen, wie alle ihre Freundinnen sicher neidvoll zugeben müssten. Manuela ist mit Paul verheiratet, der knappe fünfzehn Jahre älter als sie, dafür ein Immobilienmagnat der Wiener Innenstadt ist. Sie genießt mit ihm und ihren beiden Kindern ein sorgenfreies Leben. Eine Nanny, eine Haushälterin und ein Gärtner bilden eine stabile entlastende Organisationsstruktur, Paul ist für Männer seiner Finanzklasse vergleichsweise aufmerksam und, von situativen Ausrutschern abgesehen, treu, und Manuela kann sich neben der Betreuung ihrer Kinder und dem Gesellschaftsleben mit Paul der eigenen Instandhaltung ohne wesentlicher Einschränkung widmen. Wie kann also jemand mit einem derartig sorgenfreien Leben von zunehmenden Überforderungsgefühlen, gehäuften Attacken von Herzrasen, die von den besten Internisten vermessen und als nicht somatisch begründet attestiert sind, gravierenden Schlafstörungen, die ohne entsprechende Medikation unbeherrschbar anmuten, und einem generellen Gefühl steigenden Lebensüberdrusses berichten. Burnout – oder doch eher „Bore-out“, aber vielleicht liegt das ja nicht zu weit voneinander entfernt. In den letzten Wochen ist es Manuela erst um die Mittagszeit gelungen, ihr Bett zu verlassen und die Morgentoilette zu bewältigen. Wenn die beiden Kinder aus der Schule gebracht wurden, löste deren Lebendigkeit und Wunsch nach Kommunikation nur Verzweiflung bei ihr aus. Paul hatte, was als ein durchaus ernstzunehmendes Problem gesehen werden muss, bereits mehrere Abendveranstaltungen ohne sie wahrnehmen müssen, da sie der Gedanke, auf so viele fremde Menschen zu treffen, in unstillbare Weinkrämpfe gestürzt hatte.

      Dabei fühlt sich Manuela nicht wirklich deprimiert. Ihr vorherrschendes Gefühl ist einfach totale Erschöpfung, bleierne Gliedmaßen, unendliche Müdigkeit, als wäre sie ihr ganzes Leben durch eine Wüste geirrt und würde jetzt nicht mehr können. Endlos lange ist ihr unerklärliches Verhalten für Paul sicher nicht mehr tragbar, so denkt sie selbst …

      Process in progress

      Friedrich ist ein 46-jähriger, etwas ängstlich strukturierter Postbeamte. Ein hartnäckiges, feinschlägiges Zwinkern hat sich in seinem rechten Oberlid eingenistet. Es mutet fast so an, als würde er mit mir in eine Art nonverbalen konspirativen oder gar auffordernden Dialog treten wollen, während er seine Geschichte erzählt. Aber Friedrich ist alles andere als zu Scherzen oder Anmache aufgelegt. Immer wieder blickt er sich hastig nach imaginärer Bedrohung in meinem Sprechzimmer um, um dann wieder den Kopf wie eine Schildkröte zwischen seinen hochgezogenen Schultern zu verstecken. Begonnen hat alles, wie er zu diesem Zeitpunkt unseres ersten Anamnesegesprächs noch glaubt, mit dieser verdammten Umstrukturierung und seiner damit unvermeidlichen Versetzung von der Paketverwaltung zum Schalterdienst. Die Verantwortlichkeit für die Kassaführung stresst ihn so, dass er in einem Kreislauf von Angst, Schlaflosigkeit und Auslieferungsgefühlen versinkt. Längst hasst er alle Schalterkunden aufs Tiefste. Er fühlt sich von ihnen feindselig beobachtet und von ihrer Ungeduld unter Druck gesetzt. Dazu kommt, dass er sich, immer schon zur körperlichen Selbstbeobachtung neigend, physisch sehr angegriffen fühlt. Ein Infekt löst den anderen ab. Den ganzen Winter und Frühling über leidet Friedrich unter nie wirklich ausheilenden grippalen Infekten, die er dem Schalterdienst zuschreibt. Aber auch im Frühsommer wird es nicht besser. Das grundsätzliche Gefühl von Schwäche, Auslieferung und hohem Stress schon am Morgen zu Arbeitsbeginn sind ihm zu viel. Immer wieder muss er unter den verschiedensten Vorwänden und körperlich vielgestaltigen, diffusen Beschwerdebildern, die eine ausgedehnte ergebnislose Gesunden-Untersuchung nach sich ziehen, Pausen im Rahmen von Krankenständen einlegen.

      Dann wird bei seiner Frau, die eine besonders stützende Funktion für seine Persönlichkeit übernommen hatte, eine chronische Autoimmunerkrankung festgestellt. Der Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt sich zwangsweise. Aufwändige Untersuchungen, Krankenhausaufenthalte, eine Operation und ein längerer Kuraufenthalt folgen. Friedrich allein zu Haus erlebt eine völlige Dekompensation seiner Beschwerden. Abends konsumiert er größere Mengen Alkohol, um seine Ängste vor dem nächsten Tag niederkämpfen zu können. Auf der Fahrt mit der U-Bahn zum Arbeitsplatz häufen sich plötzlich auftretende Attacken von Panik und Atemnot, die ihn zwingen, vorzeitig auszusteigen. Schließlich kommt es bei ihm zu einem Gesamtzusammenbruch, der eine achtwöchige Stationierung auf einer neurologischen Abteilung nach sich zieht. Jetzt sitzt er zur Nachbetreuung bei mir …

      Sonja ist 44 Jahre alt und Verkaufstrainerin in der hausinternen Schulungsakademie eines internationalen Wäschekonzerns. Eine große, schlanke Frau mit grundsätzlich äußerst gepflegtem Auftreten, das jedoch nun einige Zeichen von „Verwilderung“ trägt und gerade noch von der Selbstverständlichkeit jahrelanger Disziplin vor dem Abrutschen in die Ungepflegtheit bewahrt wird. Disziplin in ihrer eisernen Form zählt sicher zu Sonjas lebensbestimmenden Grundkompetenzen.

      Als sie nach einer kargen, von Verlusterlebnissen geprägten Kindheit als Lehrmädchen für den Einzelhandel in den Konzern eintritt, erscheint ihr dies die erste wirkliche Chance in ihrem Leben auf Anerkennung und eine selbständige Zukunft. Die Dienstkleidung verleiht ihr Zugehörigkeit, ihre Filialleitung schätzt sie wegen ihres unermüdlichen Einsatzes, ihrer schnellen Auffassungsgabe und hohen Teamfähigkeit. Rasch gelingt ihr – entsprechend der Politik des Konzerns, Identifikation mit dem Unternehmen zu honorieren – der Aufstieg zur Leitung einer eigenen Filiale an einem prestigereichen, stark frequentierten Standort. Als Führungsverantwortliche zeigt sie auffallende Umsicht und ist bei ihren Mitarbeiterinnen wegen ihrer stark prosozialen Haltung enorm beliebt. Es wundert niemanden, dass Sonja in das kleine Entwicklungsteam geholt wird, dem auf Vorstandsbeschluss der Auftrag zuteil wird, eine interne Schulungsakademie aufzubauen. Sonja ist in ihrem Element und wirft sich mit einer weiteren Kollegin und einer älteren Vorgesetzten voll Elan in die Gestaltung dieser Aufgabe. Inzwischen ist sie 34 Jahre alt, bei ihren Schwestern und Freundinnen hat sich längst Nachwuchs eingestellt, und auch Sonjas Ehemann Bernhard fühlt sich für die Vaterrolle bereit.

      Doch der Moment scheint Sonja äußerst ungünstig für Schwangerschaft und nachfolgende Karenz, wenn sie das Entwicklungsprogramm für das Verkaufspersonal ins Kalkül zieht, das es umzusetzen gilt. Das bleibt auch so, sodass sie, als sie zwei Jahre später durch einen Verhütungsfehler schwanger wird, gegen den Protest ihres Mannes und aus dem Gefühl heraus, ihre Kolleginnen und die ganze Aufbauarbeit sonst zu verraten, eine Abtreibung vornehmen lässt. Sie tut das, obwohl sie ihren eigenen Kinderwunsch stark wahrnimmt und nachfolgend monatelang unter Alpträumen und Schlafstörungen leidet. Längst lebt Sonja nur mehr für ihre beruflichen Ziele. Ein zunehmender Energiemangel, der im krassen Gegensatz zur Forderung steht, als Trainerin eine stets perfekte, optimistische und mitreißende Aura zu besitzen, höhlt sie zunehmend aus. Sie zieht sich von ihren Freunden zurück, erlebt sich von ihnen missverstanden. In der Beziehung kommt es zu einem beginnenden Abrücken der Partner von einander. Als sie anlässlich ihres vierzigsten Geburtstags auch das Thema „Kinder“ für abgeschlossen erklärt, entsteht ein endgültiger Riss in der Paarbeziehung. Es wird noch knapp zwei Jahre dauern, bis ihr Mann sie eines Abends mit der Eröffnung überrascht, dass eine andere Frau von ihm schwanger sei und er nun die Scheidung möchte. In der Zwischenzeit hatte sich zwischen dem Ehepaar eine Decke zunehmenden Schweigens über den darunter liegenden Schwelbrand gebreitet.

      Der Konzern expandiert und Sonja fällt die Personalentwicklung in den neuen Filialen im Ausland zu. Ein weiterer Höhepunkt ihrer Karriere, den sie allerdings nur mehr mit Medikamenten und verschiedenen Aufputschmitteln durchhält. Abends, in den immer gleichen Hotelzimmern, befällt sie ein dumpfes Sinnlosigkeitsgefühl, das sich nur mit großen Mengen von Alkohol dämpfen lässt. Zu diesem Zeitpunkt verlässt sie ihr Mann endgültig. Nur die zufälligerweise von ihrer Vorgesetzten gegebene Versprechung, ihr die Leitung der Schulungsakademie zu übergeben, die diese selber wegen einer soeben diagnostizierten Krebserkrankung zurücklegen muss, scheint sie vor dem Absturz in den gähnenden Abgrund zu retten.

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