Der Jahrhundertroman. Peter Henisch
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Jahrhundertroman - Peter Henisch страница 11
Was Sie nicht sagen! gab sich Roch verwundert. Die Anforderungen, die heutzutage schon im ersten Semester an die Studierenden gestellt werden, sind ja geradezu unwahrscheinlich!
Er hinkte neben ihr her. Sie sah ihn nicht an, sie schaute geradeaus. Doch sie spürte sein unverschämt schiefes Lächeln. Aber Kopf hoch, Fräulein Lisa, Sie werden das schon schaffen. Und dann werden Sie doch ein bisschen Zeit für mich und mein Projekt haben?
Dann würde sie zu ihm in sein Depot kommen und er würde ihr diktieren … Und das sollte sie doch interessieren … Sie werde dabei vielleicht einiges erfahren, das sie auf der Uni nicht erfahren würde … Also – einmal abgesehen von materiellen Fragen – auch in intellektueller Hinsicht werde es ihr Schaden nicht sein.
Und dann war die Straßenbahnhaltestelle bereits in Sichtweite. Und je näher sie ihr kamen, desto bedrängender redete er. Sie werden mich doch nicht hängen lassen, Lisa! (Bei diesen Worten fasste er sie sogar am Arm.)
Vergessen Sie bitteschön nicht, worum es geht!
Und ja, das wusste sie doch: Es ging um den Roman.
Seinen Roman, der nicht irgendein Roman war … Sondern – Doppelpunkt – ein Jahrhundert roman …
Das wusste sie ja. Das hatte er ihr doch schon hundertmal erzählt.
Dass er es als Verpflichtung empfunden habe, diesen Roman zu schreiben … Aus Dankbarkeit den Autoren und Autorinnen gegenüber, von deren Büchern er mehr als ein halbes Leben lang umgeben gewesen sei … Diesen Roman zu schreiben, an der Schwelle zu einem Jahrhundert, in dem Literatur oder zumindest Literatur, wie die in seinem Jahrhundert geschriebene, vielleicht, ja wahrscheinlich, in Vergessenheit … und so fort.
Und jetzt war die Straßenbahn da und sie stieg rasch ein.
Und die Falttür schloss sich hinter ihr und Roch blieb draußen. Er stand auf dem Gehsteig, sehr klein, und winkte ihr. Und sie atmete auf, erleichert darüber, dass er nicht mit eingestiegen war.
Und auf der Fahrt, auf dieser eine knappe Viertelstunde langen Straßenbahnfahrt bis zur Haltestelle Schottenring, wuchs ein Widerwille in ihr. Ein Widerwille und ein Trotz gegen Roch und seinen dubiosen Roman. Einmal vorausgesetzt, dass er wirklich nichts anderes von ihr wollte, als dass sie die unleserlichen Seiten seines Manuskripts nach seinem Diktat tippte (und einmal davon abgesehen, dass er ihr dafür, wenn sie ihn lang genug zappeln ließ, wahrscheinlich auch drei Euro pro Seite bieten würde): Warum sollte sie wer weiß wie viel Zeit und Energie auf die fixe Idee eines alten Mannes verschwenden, statt sich endlich ihren eigenen Texten zuzuwenden?
Nicht erst den Texten, die sie getippt hatte, seit sie in Wien war, im Café Klee oder in der WG oder – solange das Wetter warm genug gewesen war –, auf einer der kalten Bänke im Hof der Uni. Nein, auch jenen, die sie noch in Linz geschrieben hatte, schon viel früher. Texten, die doch noch in ihrem Smartphone gespeichert sein mussten, manche verschlüsselt, aber sie hatte das Passwort, das sie damals verwendet hatte, notiert. Genau: Statt sich in Rochs zwielichtiges Depot verschleppen zu lassen, sollte sie sich lieber in ihrem WG-Zimmer hinsetzen und zusammensuchen, vielleicht in einem neuen Dokument zusammenfassen, was sich da alles fand.
Zum Beispiel das:
einmal, als ich aufwachte mitten in der Nacht
da hing der Mond ganz schief vor dem Fenster und ich dachte, die Erdachse muss gekippt sein, während ich geschlafen habe.
draußen im Garten piepste ein Vogel ganz kläglich, aber der Hund schlief friedlich.
meine Eltern, an deren Tür ich horchte, offenbar auch, mein Bruder Jakob schnarchte sogar ein wenig.
die Katze war allerdings nicht zu finden, das Küchenfenster stand offen, sie war also unterwegs.
ich öffnete den Kühlschrank und trank kalte Milch aus der Flasche, damals mein Lieblingsgetränk.
dann hörte ich, wie die Katze, hinter meinem Rücken, durchs Fenster hereinsprang.
ich drehte mich um, sie war auf dem Tisch gelandet, ein kleiner Tiger, mit weichen Pfoten, aber scharfen Zähnen, dazwischen der Vogel, den legte sie mir hin, neben die Obstschüssel mit den rotbackigen Äpfeln:
ein Geschenk.
ich rührte das Frühstück nicht an.
was hast du? fragte die Mama.
nichts, sagte ich. Bloß keinen Appetit.
aber Kind, sagte die Mama.
ich bin kein Kind, sagte ich.
lauter gute Sachen, sagte der Papa. Das Müsli heute mit Waldbeeren.
und der Beinschinken ist super, sagte Jakob. Und die Senfeier sind echt geil.
und der Marmorkuchen, sagte die Mama mit Rufzeichen.
alles sah schön aus und roch gut. Und der Kaffee aus der neuen Moccamaschine duftete. Aber ich wollte lieber nichts davon. Nein, danke.
stand auf und ging Richtung Toilette, noch möglichst beherrscht.
kam aber keinen Moment zu spät dort an.
kotzte gut fünf Minuten lang, wenn nicht mehr.
danach war das Handwaschbecken voll mit Federn.
Jakob klopfte an die Tür. Andere Menschen haben auch ihre Bedürfnisse.
geh aufs Klo im Oberstock, rief ich, das hier dauert noch eine Weile.
ich fragte mich, ob ich die Federn einfach hinunterspülen konnte oder ob sie den Abfluss verstopfen würden.
die größeren erwischte ich mit Hygienepapier, aber die Flaumfedern waren widerspenstig.
was ist denn los mit dir? fragte mein Vater, als ich dann neben ihm im Auto saß.
wenn er am Vormittag in die Ordination musste, nahm er mich meist mit und ließ mich an der Ecke zur Schulstraße aussteigen.
Achselzucken.
schnall dich an, sagte er. War dir schlecht?
du hast doch hoffentlich nichts angestellt?
ich kapierte gar nicht gleich, was er meinte.
angestellt! Was für ein peinliches Wort in diesem Zusammenhang.
ich bin doch dein Papa, sagte er, mit mir kannst du über alles reden.
ich meine, auf so einer Party wie der, von der ich dich unlängst abgeholt hab, kann ja vielleicht dies und das passieren.
die Party, von der er mich, statt wie ausgemacht um zwölf, schon um halb zwölf abgeholt hatte.
statt draußen vor