Der Jahrhundertroman. Peter Henisch
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Jetzt ist er anscheinend schon längere Zeit in Pension. Und schreibt etwas. Oder hat etwas geschrieben. Oder will etwas schreiben.
Was denn?
Irgend so einen Roman, sagte sie.
Es war wahrscheinlich besser, Ronnie nicht ganz einzuweihen.
Das Wort Jahrhundertroman kam ihr jedenfalls nicht über die Lippen.
Sie wollte sich nicht lächerlich machen. Oder sie wollte Roch nicht lächerlich machen.
Und du willst etwas von diesem Roman abtippen?
Vielleicht, sagte sie.
Na, gratuliere! sagte Ronnie. Lass dich bloß nicht auf was Verrücktes ein!
Wahrscheinlich hatte auch das eine Rolle gespielt. Was sie tat oder ließ, war doch ihre Sache! Ronnie hatte ihr gar nichts mehr dreinzureden! Womöglich ließ Tina sich das gefallen. Sie nicht.
Und Roch ließ nicht locker. Er arbeitete weiter daran, Lisa die von ihm behauptete geistige Verwandtschaft zwischen ihm und ihr zu suggerieren. Sehen Sie, sagte er, als ich so jung war wie Sie, da habe ich auch Gedichte geschrieben.
Aber ich habe Ihnen doch gesagt …, sagte sie.
Ja, ja, sagte er. Ich weiß schon. Aber vor mir brauchen Sie das doch nicht zu verleugnen.
Ein paar von meinen Gedichten, sagte er, sind sogar veröffentlicht worden. In Literaturzeitschriften. Von denen es damals noch viele gegeben hat. Viel mehr als jetzt, kommt mir vor, damals war vieles im Aufbruch. Aber das war im inzwischen vergangenen Jahrhundert.
In meinem Jahrhundert, sagte er. Er lachte und musste husten. Dass so ein Jahrhundert, aus dem man kommt, auf einmal vergangen ist! Und jetzt bald seit zwei Jahrzehnten! Das ist schon komisch, wissen Sie. Manchmal erschrickt man darüber, aber das ist erst recht komisch.
Dass man auf einmal so etwas wie ein Fossil ist …
Er hustete noch immer, offenbar war ihm etwas in die falsche Kehle gekommen.
Diese aufgebackenen Semmeln, nichts als Bröseln … In meinem Jahrhundert hat es noch anständige Semmeln gegeben.
Sie klopfte ihm auf den Rücken.
Danke, sagte er, lieb von Ihnen. Dafür, Fräulein Lisa, haben Sie sich ein Gedicht verdient:
Ich bin / es hat nichts zu sagen / wer
Ich komme / ich soll mich nicht fragen / woher
Ich gehe / man wird mir schon schaffen / wohin
Man legt darauf Wert / dass ich pausenlos fröhlich bin.
Kennen Sie das?
Kommt mir irgendwie bekannt vor, sagte sie.
Ja, sagte er. Eine kleine Variation.
Von Ihnen? fragte sie.
Nein, sagte er. Nicht von mir. Aber es gefällt mir. Darum habe ich es mir gemerkt und kann es auswendig.
Schön, sagte sie.
Ja, sagte er. Und wahr … Denn genau das, liebes Fräulein Lisa, genau das ist es ja.
Was? fragte sie.
Was wir uns nicht gefallen lassen dürfen! Diese Erinnerungslosigkeit. Diese Geschichtslosigkeit. Diese erbärmliche Gesichtslosigkeit.
Fällt Ihnen das nicht auf, wenn Sie zum Beispiel in der Straßenbahn fahren, Fräulein Lisa? Diese Leere in den Blicken der meisten Leute? Aus der Leere in ihren Köpfen schauen sie hinaus ins Leere … Oder sie starren auf die Bildschirme ihrer Handys, dieser verführerischen Spielzeuge, die von der Welt drinnen und draußen ablenken.
Ganz selten liest jemand noch ein Buch, hab ich recht? Wenn Sie von hier stadteinwärts fahren, zum Schottentor, wo Sie, nehme ich an, aussteigen, um an die Uni zu gehen, wie viele Leute sehen Sie da, die ein Buch lesen? Vielleicht irgendwelche frommen Muslime, die den Koran lesen, oder irgendwelche bildungsbeflissenen Chinesen! Aber die Hiesigen, unsere Landsleute, unsere Zeitgenossen, die noch ein Buch lesen – und nicht, wenn sie sich schon der anachronistischen Anstrengung unterziehen, mit den Augen gedruckten Zeilen zu folgen, eine dieser elenden Gratiszeitungen, in denen bis auf ein paar idiotische Schlagzeilen nichts drinsteht, nichts und wieder nichts, sodass man es, wenn man aussteigt, auch gleich wieder vergessen kann und das bunte Blatt, in dem man, ohne irgendwas wahrzunehmen, geblättert hat, in den Papierkorb wirft, wo es hingehört – die Menschen dieser angeblichen Kulturnation, die heutzutage in den öffentlichen Verkehrsmitteln noch ein richtiges Buch lesen, sind eine aussterbende Spezies.
Sie haben recht, sagte Roch, manchmal spreche ich ziemlich lange Sätze. Auch das sei ein Anachronismus in Zeiten wie diesen. Aber dazu bekenne er sich, darauf sei er stolz. Denn was sind denn das für Zeiten, bitteschön, in denen ein Satz über mehr als zwei Zeilen, ein Satz mit mehr als bloß Satzgegenstand und Satzaussage, also mit Ergänzungen, Beifügungen, fallweise sogar mit Umständen der Art und Weise, des Ortes und vor allem der Zeit, die Geduld und das Fassungsvermögen dieser an geistiges Fastfood gewöhnten Menschen schon überfordert?
Ja, sagte Roch, das ist doch die traurige Wahrheit. Wir leben in Fastfoodzeiten, Fräulein Lisa. Und die meisten Leute finden das ganz normal, wenn nicht sogar gut. Kurz angebunden an den Pflock des Augenblicks.
Und deswegen schreibe er den Jahrhundertroman. Deswegen und dagegen. Das heißt, er habe begonnen, ihn zu schreiben. Dann habe sich zwar einiges ergeben, das die Verwirklichung dieses Projekts erschwerte, manchmal sei er schon drauf und dran gewesen, zu verzagen. Doch jetzt, seit Lisa erschienen sei, habe er neuen Mut gefasst.
Er sagte tatsächlich: Seit Sie erschienen sind. Sie sind die Person, die mir wirklich helfen könnte. Ja, Fräulein Lisa, geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Darf ich Sie auf etwas einladen? Es wäre mir eine Freude.
Sie ging dazu über, die Graffiti zu fotografieren.
Mehr Wildnis. Riot-Girl statt Barbie Girl.
Lebe grenzenlos. Diese Parole war eines Tages durch ein zwischen die ersten zwei Buchstaben eingefügtes i ergänzt worden. Lisa fotografierte sie noch einmal. Und dann noch einmal. Bei besseren Lichtverhältnissen.
Liebe grenzenlos. Genau. Das gefiel ihr.
Sie war versucht, das Foto Ronnie zu zeigen.
Schau! sagte sie. Aber Ronnie war gerade in ein Videospiel vertieft.
Wahrscheinlich war er auch nicht der richtige Adressat für diese Botschaft.
Stimmt schon, vielleicht erinnerte Herr Roch Lisa ein wenig an ihren Großvater … Durch die Art, wie er gewisse Wörter aussprach … Das Wort Melange zum Beispiel … Oder das Wort Bagage … Aber darüber hinaus hielt sich die Ähnlichkeit in Grenzen.
Nach seinem Schlaganfall war seine rechte Seite, wie er es nannte, ein bisschen lädiert. Aber er war auf den Beinen, das war doch das Wichtigste. Und