Der Jahrhundertroman. Peter Henisch
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Und dann erschrak sie, als ihnen unter einer der nächsten Brücken ein Mann entgegenkam, der sie aus der Entfernung an Roch erinnerte. Vielleicht lag das ja nur daran, dass er ein wenig hinkte, denn als er näherkam, sah er ganz anders aus als Roch. Im ersten Moment aber war sie fast überzeugt gewesen, dass er es war. Und hätte, in der Hoffnung, dass er sie mit seinen schlechten Augen noch nicht erkannt hatte, am liebsten rasch umgedreht.
Das ist doch absurd, sagte Ronnie, warum hast du diesem Typen gegenüber ein schlechtes Gewissen?
Ich hab gar kein schlechtes Gewissen, behauptete sie. Es ist einfach so … Er erwartet, ja, er erhofft sich etwas von mir … Und es ist mir unangenehm, ihn enttäuschen zu müssen.
Nenn es, wie du willst, beharrte Ronnie. Ich finde, du solltest es jedenfalls nicht übertreiben. Dein Mitleid mit diesem alten Sack könnte sich durchaus in Grenzen halten. Vielleicht ist er ja bloß ein bisschen verrückt, aber vielleicht ist er ein richtiger Psychopath.
Sie gingen an der Uferböschung entlang. Ronnie kickte eine leere Coladose ins Wasser.
Ein paar Enten flogen auf und landeten wieder.
Roch! sagte er. Was ist denn das überhaupt für ein Name? Ist das nicht irgendso ein Horrorvogel?
Jetzt hör aber auf! sagte sie.
Doch, doch, sagte er, das ist irgend so ein Monster! Wandte sich von ihr ab und blickte hinüber ans andere Ufer.
Die Graffiti dort drüben: hässliche Fratzen.
Wenn du mir nicht glaubst, sagte er, schau ins Internet.
Und da fand sie dann wirklich einiges: Der Vogel Roch, auch Roc, Rokh, Ruch oder Rock (von arabisch ar-Ruchch. Wortursprung aus dem Persischen). Ein Fabelwesen aus den Erzählungen von Tausendundeiner Nacht.
Wird aber auch in den Beschreibungen von Marco Polo und anderen Reisenden und Händlern erwähnt. Angeblich über dem Indischen Ozean gesichtet. Ein Vogel von unwahrscheinlicher (legendärer) Größe. Nach der kryptozoologischen Haupttheorie basiert die Legende vom Vogel Roch im Wesentlichen auf dem mittlerweile ausgestorbenen Elefantenvogel (Aepyornis maximus) aus Madagaskar.
Neben dem Wikipedia-Artikel war auch ein Bild zu sehen. Der Vogel Roch, stand darunter, zerstört Sindbads Schiff. Ach ja, Sindbad! Sie erinnerte sich. Als sie noch klein war, hatte ihr der Vater eine CD mit Sindbads Reisen geschenkt. Aber als sie aus der alten Wohnung in der Landstraße hinaus in das neue Haus am Pöstlingberg gezogen waren, war sie immerhin schon zehn, also ein großes Mädchen, und der Karton mit den Kinderbüchern und den Märchen-CDs war entsorgt worden.
Drei Tage blieb Lisa dem Café Klee fern. Das schien ihr zum Auskurieren einer mittelschweren Verkühlung angemessen. Natürlich hätte sie auch eine Grippe vorschützen können, die auszukurieren mindestens eine, wenn nicht gar zwei Wochen dauerte – die Viren lagen um diese Jahreszeit angeblich in der Luft. Aber zu lang wegzubleiben wäre nicht nur der Chefin gegenüber unfair, sondern auch unklug gewesen – sie sollte nicht auf die Idee kommen, sich inzwischen um eine andere Aushilfe umzusehen.
Da war Lisa also wieder, am Vormittag des vierten Tages. Lassen Sie sich anschauen, sagte Frau Resch – na ja, ein bisschen blass sehen Sie noch aus! Sie brauchen Vitamine, mein Kind, Zitronen, Orangen, Kiwis! Warten Sie, ich mach Ihnen eine heiße Limonade.
Mit diesen Worten verschwand sie schon in der Küche. Um nicht bloß dumm hinter der Theke zu stehen, griff Lisa nach einem Tuch und polierte ein paar Gläser. Dann kam Frau Resch mit der Limonade zurück, in der sie mit einem langstieligen Löffel rührte. Ich hab auch Honig hineingetan, sagte sie, das ist gut für die Nerven.
Setzen Sie sich ruhig hin, sagte sie, und trinken Sie das in kleinen Schlucken. Sie sehen ja, das Lokal ist wieder einmal nicht überfüllt. Lisa fühlte sich angenehm bemuttert. Auch wenn sie sich beim Trinken ein bisschen schäbig vorkam, weil sie diese Fürsorge der Vortäuschung falscher Tatsachen verdankte.
Bis zehn kamen nur zwei oder drei Gäste, um elf, in ihrer großen Pause, kamen ein paar Lehrerinnen aus der Klosterschule um die Ecke. Da gab es dann einiges zu servieren und anschließend abzuräumen. Wer aber vorläufig nicht auftauchte, war Herr Roch. Lisa fragte sich, wo er blieb, aber Frau Resch wollte sie lieber nicht nach ihm fragen.
Am frühen Nachmittag wollte die Chefin auf die Post. Gut, dass Sie wieder da sind, Lisa, da kann ich das noch heute erledigen. Und anschließend würde sie noch einen Sprung auf den Markt machen. Roch erschien keine zehn Minuten, nachdem Frau Resch gegangen war.
Fräulein Lisa! sagte er. Was für eine Freude, dass Sie wieder da sind! Na, hoffentlich sind Sie jetzt wieder wohlauf und munter! Sie sind mir abgegangen, wissen Sie? Ohne Sie ist dieses Lokal einfach ein trauriger Ort.
So traurig, dass es ihn gar nicht mehr gereizt habe, schon früh am Vormittag hierherzukommen. Ehrlich gesagt, sei es ihm in den letzten beiden Tagen sogar schon fragwürdig erschienen, am Morgen überhaupt aufzustehen. Angesichts dieser trostlosen Finsternis vor dem Fenster. Ohne die Perspektive, im Café Klee durch Lisas Anblick und Gesellschaft aufgemuntert zu werden.
Etwa so redete er und war kaum zu bremsen. Und da merkte sie schon, dass es ihr nicht leichtfallen würde, ihm zu sagen, was sie sich zu sagen vorgenommen hatte. Merkte das schon, bevor er auf den Roman zu sprechen kam. Wie sollte sie ihm denn beibringen, dass sie ihm das Manuskript und die hundert Euro, die er ihr zugesteckt hatte, zurückgeben wollte, schlicht und einfach deshalb, weil sie es nicht lesen konnte, und dass sie sein Ansinnen, ein derartiges Manuskript nicht nur zu lesen, sondern auch noch abzutippen, eigentlich als Zumutung empfand, wenn nicht als schlechten Scherz.
Sag’s ihm kurz und bündig, hatte ihr Ronnie geraten, sag’s ihm klipp und klar. Aber Ronnie hatte leicht gute Ratschläge geben. Für ihn war Herr Roch ein Phantom, ein Freak, eine komische Figur. Sie aber hatte diesen alten Mann, mit dem sie doch, wenn sie ihren Job im Café Klee nicht aufgeben wollte, voraussichtlich noch längere Zeit irgendwie auskommen musste, nun wieder leibhaftig vor sich.
Ja, sie hatte das Manuskript in der großen, schwarzen Mappe wieder in ihren Stadtrucksack gezwängt, um es ihm zurückzugeben. Und den Geldschein, den er ihr als Vorschuss zugesteckt hatte, hatte sie auch dabei. Aber sie wollte Roch doch nicht mutwillig wehtun. Und beleidigen wollte sie ihn auch nicht.
Also sagte sie nicht, dass sie sein Manuskript nicht lesen konnte. Sondern nur, dass sie gewisse Schwierigkeiten mit seiner Schrift habe. Schwierigkeiten, die es ihr allerdings unmöglich machen würden, den Text abzutippen. Jedenfalls in einem halbwegs vernünftigen Tempo.
Ach so? sagte er. Ach ja. Das habe ich mir fast gedacht. Dass es nicht leicht für Sie sein wird, sich einzulesen. Also zuallererst, meine Schrift zu entziffern. Wenn es allerdings so schwer ist, werden wir uns eine andere Vorgangsweise einfallen lassen müssen.
Eine andere Verfahrensweise, sagte er und ließ das Wort wirken, während er die Brille abnahm und sie mit einem Brillenputztüchlein zu putzen begann. Mit so einem kleinen, dottergelben Rauledertüchlein. Einem sogenannten Rehhäutel (so hatte das jedenfalls ihr Großvater genannt). Wo ist denn mein Rehhäutel? Gegen Ende hatte der Opa dieses Brillenputztüchlein ständig gesucht.
Ständig gesucht hatte er es in den Taschen seiner Hausjacke. Linke Tasche, rechte Tasche, Brusttasche, und dann wieder von vorn. Linke Tasche, rechte Tasche,