1975. Wolfram Hanel
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Appaz brach sich ein Stück Scho-Ka-Kola ab und hielt Kerschkamp die rotweiße Blechdose hin. Er hatte keine Lust, den Ami fahren zu lassen.
»Leonard Cohen hat mal geschrieben, dass er das Lenkrad lieber selbst in der Hand haben will, wenn er sich schon dem ganzen Chaos aussetzt«, erzählte er Kerschkamp.
Kerschkamp grinste.
»Bei seinen Songs wäre es aber irgendwie schon besser gewesen, wenn er mal jemand anders rangelassen hätte …«
In Saumur war ein Campingplatz ausgeschildert. Eine Wiese mit hohen Bäumen auf einer Insel im Fluss. An der Einfahrt lungerten ein paar Jugendliche rum. Langhaarige. Ein Typ mit einer dicken Hornbrille nickte ihnen zu.
»Französische Freaks, oder was?«, meinte Kerschkamp, als sie vorbeifuhren.
Sie bauten das Zelt auf. Lepcke holte Wasser vom Klo und rührte auf dem Campingkocher eine Tütensuppe an.
»Und danach Ravioli in Tomatensauce«, sagte Ratte und kramte die entsprechende Dose aus dem Karton mit den Vorräten.
Plötzlich waren die Jugendlichen da. Wie selbstverständlich hockten sie sich zu ihnen auf den Rasen.
»Wollt ihr auch was?«, fragte Kerschkamp,
»’aschisch?«, fragte der mit der Hornbrille.
»Nee«, grinste Kerschkamp, »Soupe de jour. Et après du Ravioli…«
»He, warte mal«, mischte sich Ratte ein, »vielleicht wollen die uns was verkaufen, kapierst du? Haschisch?«, wendete er sich an die Hornbrille. »Dope?«
»Oui, oui…«
Der Typ förderte eine Blechdose aus seiner Umhängetasche zutage.
»’aschisch …«
»O nee, Leute«, ließ sich der Ami vernehmen, »was soll das denn jetzt?«
Aber keiner beachtete ihn. Die Franzosen klebten mehrere Rizla-Blättchen zusammen und bauten einen Joint, der sich sehen lassen konnte. Ratte riss einen schmalen Streifen Pappe vom Einband eines zerfledderten Donald-Duck-Taschenbuchs.
»Was Besseres als Mundstück gibt es gar nicht«, klärte er die Franzosen auf, die kein Wort verstanden, aber freundlich nickten.
Ein oder zwei Stunden später kochte die Tütensuppe immer noch vor sich hin. Ratte löffelte die Ravioli kalt aus der Dose. Und sie waren alle so breit, dass sie Mühe hatten, die Hand mit dem Joint überhaupt noch an die Lippen zu kriegen.
Auch der Ami war breit. Er wollte ihnen unbedingt aus dem Steppenwolf vorlesen. Keiner brachte die Energie auf, ihm zu sagen, dass er nervte.
Der mit der Hornbrille spielte Gitarre. Mehr schlecht als recht. Er hieß Didier. Und sein Kumpel hieß Jean-Jacques. Oder Jean-Pierre. Egal, irgendwas mit Jean jedenfalls. Er prügelte wie wild auf die Bongos ein, die Kerschkamp aus dem Bus geholt hatte.
Die Franzosen luden sie für abends ein. Bei Jean war eine Fete. Oder bei Pierre. Egal.
»Avec des Alles«, sagte Didier.
»Geil«, erklärte Ratte. »Wir kommen.«
Didier kritzelte die Adresse auf einen Zettel und beschrieb ihnen, dümmlich vor sich hin kichernd, den Weg. Dann wankten die Franzosen quer über den Platz in Richtung Stadt, um noch Bier zu kaufen.
Lepcke tauchte einen Löffel in die Tütensuppe und verbrannte sich prompt die Lippen. Der Ami lag auf der Seite und pennte. Ein Spuckefaden tropfte auf den Steppenwolf.
Als Appaz zum Klo ging, um sich zu waschen, kam ihm Kerschkamp entgegen.
»Scheißklos«, sagte er und schien für einen Moment vollkommen nüchtern zu sein, »da gehe ich nicht drauf. Alles vollgeschissen.«
Kerschkamp hatte recht. Die Klos waren ziemlich widerlich. Stehklos. Und so verdreckt, dass Appaz mit seinen Turnschuhen lieber gar nicht erst den Versuch machte, sich auf die Trittrasten zu stellen.
Er putzte sich die Zähne an einem Waschbecken, das kaum besser aussah.
Ratte hatte inzwischen eine Dose Leberwurst aufgemacht. Sie schmierten sich jeder ein Stück Baguette.
»Ölsardinen wären geil jetzt«, meinte Ratte mit vollem Mund, »da kannst du hinterher trinken ohne Ende. Wir müssen unbedingt Ölsardinen kaufen, wenn wir in die Stadt gehen. Oder glaubst du, die haben hier gar keine Ölsardinen?«
»Klar haben die Ölsardinen«, sagte Kerschkamp. »Ölsardinen gibt’s überall.«
Als sie über die Brücke kamen, war gleich rechts ein Straßencafe. Sie steuerten einen leeren Tisch an und bestellten Milchkaffee. Bis auf Ratte, der unbedingt Pemod trinken wollte. Sie waren immer noch breit.
Die Straße vor ihnen flimmerte in der Hitze, obwohl die Sonne schon hinter den Häusern verschwunden war.
Ein paar französische Männer am Nachbartisch guckten böse zu ihnen rüber. Kerschkamp verschwand aufs Klo. Er blieb eine Ewigkeit weg. Der Ami faselte von irgendwelchen Freimaurern, die in den höchsten Positionen sitzen und eine weltweite Verschwörung aushecken würden. Woraufhin Ratte erzählte, dass er mal nachts mit der Eisenbahn irgendwohin gefahren sei, und da sei eine Baghwan-Frau im Abteil gewesen, mit der er dann gebumst habe. Obwohl noch ein anderer Typ mit im Abteil saß, aber der schlief.
»Das ist ganz normal für die«, sagte Ratte, »freie Liebe und so, voll geil!«
»Glaube ich nicht«, sagte Lepcke. »Echt, einfach so?«
»Klar.« Ratte nickte. »Ist bekannt. Weiß doch jeder.«
Kerschkamp kam vom Klo.
»Mann, hat das gutgetan … Kann ich nur empfehlen, Leute!«
Als Appaz die Kabinentür hinter sich zuschloss, sah er die Kugelschreiberschrift auf der Tapete neben dem Lichtschalter: KERSCHKAMP WAS HERE. HEAVY TOUR ’75.
Die Party war ein paar Straßen weiter. Sie brauchten nicht lange nach der Hausnummer zu suchen, weil die Musik so laut war, dass sie es sogar durch die geschlossenen Fenster hörten. Im Treppenhaus stolperten sie über ein knutschendes Pärchen. Ratte grinste. Der Ami guckte angewidert weg.
Die Wohnungstür war offen. Im Flur drückte sich das nächste Pärchen rum. Das schon deutlich weiter war als das im Treppenhaus.
»O Mann«, stöhnte Ratte glücklich. »Geil.«
Didier kam mit einer Flasche Rotwein auf sie zugetorkelt. Er umarmte einen nach dem anderen, als wären sie uralte Freunde und hätten sich Jahre nicht gesehen. Dann stürzte er plötzlich in die Küche und kotzte in die Spüle.
Ratte zuckte mit den Achseln und zeigte mit dem Kopf auf das Pärchen in der Ecke. Der Typ trug ein grellorangefarbenes Jeanshemd. Appaz konnte nur seinen Rücken sehen und die Beine der Frau, die seinen Hintern umklammerten.
Kerschkamp boxte Appaz in die Seite und