Zeit des Zweifels. Hannelore Veit

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Zeit des Zweifels - Hannelore Veit

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denen deutlich wird: Hier hat jemand zum Massenmord angesetzt.

      Noch ist völlig unklar, ob es mehrere Täter gibt, ob die Gefahr noch weiter besteht. Gegen Mitternacht dürfen wir das Restaurant „Au Pont Saint Martin“ verlassen. Ich erfahre noch per Rundruf, dass alle, mit denen ich mich eigentlich für diesen Abend verabredet hatte, wohlauf sind. Und ich nehme dankend das Angebot des ORF an, am nächsten Tag Verstärkung zu bekommen. Unsere Paris-Korrespondentin Eva Twaroch reist an, hilfsbereit und kollegial wie immer.

      Reporter sind normalerweise nicht sehr erpicht darauf, selbst Teil der Story zu werden, die sie in die Welt setzen. Aber in diesem Fall geht es nicht anders. Ich muss am nächsten Tag Auftritte und Interviews für viele Sender absolvieren, muss immer wieder schildern, was ich gesehen und erlebt habe. Und am Abend gehen wir aus reinem Trotz zum Essen ins Restaurant „Zuem Strissel“, wo wir eigentlich tags zuvor hinwollten. Es wird meine letzte Begegnung mit Eva Twaroch sein. Drei Wochen später stirbt sie völlig überraschend allein an ihrem Arbeitsplatz in Paris. Eine Gehirnblutung. Niemand kann etwas für sie tun.

      Zwei Tage nach der Tat wird der 29-jährige Chérif Chekatt gegen 21 Uhr von einer Polizeipatrouille in der Nähe des Straßburger Fußballstadions angehalten. Er feuert auf die Beamten, sie schießen zurück, Chérif Chekatt stirbt auf der Stelle. Er hatte in der Tatnacht ein Taxi gekapert, unmittelbar nachdem er auf den Touristen aus Thailand gefeuert hatte, das letzte seiner fünf tödlich getroffenen Opfer in dieser Nacht. „Ich habe das für meine toten Brüder in Syrien getan!“, rief er dem Taxifahrer zu. Später wurde auch ein Video gefunden, auf dem er sich zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ bekannte. Er hatte trotz seines jugendlichen Alters schon 27 Vorstrafen gesammelt, zumeist für Einbruchsdelikte in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Vier Jahre seines Lebens hatte er in verschiedenen Gefängnissen verbracht, wo sein Weg zum religiös-politisch motivierten Gewalttäter begonnen haben dürfte. An dieser Geschichte mutet vieles seltsam bekannt an. Der Täter, Kind einer Einwandererfamilie. Der Weg ins Terrormilieu über kleinere, „gewöhnliche“ Delikte, und schließlich die Radikalisierung, auch auf dem Weg über Kontakte in der Haft.

       Menschliche Zielscheiben

      Wir haben ein ganz ähnliches Muster bei Salah Abdeslam, dem Mann, der als Haupttäter der Anschläge vom März 2016 in Brüssel gilt, wie auch bei Kujtim Fejzulai, der am Allerseelentag des Jahres 2020 in Wien ein Terrormassaker in der Innenstadt verübte. Es sind durchwegs männliche Täter in jüngeren Jahren mit wenig Perspektive für das weitere Leben, aber mit Einflüsterern, die ihnen großen Lohn im Jenseits versprechen, wenn sie im Diesseits Menschen in den Tod befördern. Einen islamistischen Gottesstaat zu errichten, das bleibt ihnen in Syrien genauso verwehrt wie in Straßburg, Brüssel und Wien. Aber die geistige Basis ihres Tuns bleibt bestehen. Sie hat sich in den Köpfen vieler junger Leute eingenistet, die nach irgendeiner Art von Orientierung suchen. Und das hat jetzt auch dafür gesorgt, dass sich unsere Städte mit Grundzügen der Festungsarchitektur vertraut machen müssen.

      Ein weiches Ziel zu finden, eine Möglichkeit, so viele Menschen wie möglich auf einmal möglichst verheerend zu treffen, das wurde dem 24-jährigen Anis Amri am Abend des 19. Dezember 2016 ziemlich leicht gemacht. Zuvor, am Nachmittag, hatte er in Berlin-Moabit den polnischen Fahrer eines mächtigen Saab-Scania-Sattelschleppers erschossen. Der schwere Wagen war beladen mit 25 Tonnen Baustahl aus Italien, das machte ihn zu einem umso wuchtigeren Geschoß. Und das war genau der Zweck, zu dem Anis Amri seine Beute nun einsetzen wollte. Er steuerte mitten hinein ins Zentrum des alten West-Berlin, wo die weihnachtlich dekorierten Bretterbuden standen, die inmitten des Großstadtambientes ein bisschen besinnliche Stimmung schaffen sollten. Am Fuß der Gedächtniskirche war das kleine Weihnachtsdorf aufgebaut, auf einem Platz, der, rückblickend betrachtet, das größtmögliche Sicherheitsrisiko bedeuten musste für alle, die sich dort versammelt hatten. Denn seine Architektur war zum Durchrasen geradezu prädestiniert.

      Der Breitscheidplatz in Berlin war nie ein richtiger Begegnungsort im Sinne einer „piazza“, wie sie seit dem Mittelalter Europas Städte prägt. Er war immer als Zentrum eines Sterns von sechs großen Straßen angelegt, mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Zentrum. Von der Kirche steht heute nur noch die Ruine ihres Turmes mit den gut erkennbaren Bombenschäden aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein imposantes Zeichen der Erinnerung. Und daneben, die Ruine auf beiden Seiten flankierend, der Neubau aus den späten 1950erJahren von Architekt Egon Eiermann. Das Kirchenschiff als Achteck und, davon abgesetzt auf der anderen Seite der Ruine, der Turm, beides mit durchscheinendem blauem Glas als Fest des Lichts und der Lebendigkeit komponiert.

      Es war viel überlegt und gestritten worden rund um die Neugestaltung des Kirchenensembles nach den Jahren von Krieg und Zerstörung. Aber die grundsätzliche Konzeption des Platzes als Straßenkreuzungspunkt und als Verteiler von Verkehr stand nie in Zweifel. Nur der Kreisverkehr, der bis in die 1950er-Jahre hinein noch rund um die Gedächtniskirche führte, wurde aufgelassen. Aber das war nicht als Maßnahme gedacht, die Stadt weniger autofreundlich zu machen, im Gegenteil. Im Denken der Planer dominierte das US-amerikanische Ideal der autogerechten Stadt, noch dazu, wo sich im geteilten Berlin nach dem Jahr 1961 der Breitscheidplatz und der nahe Kurfürstendamm rasch als Zentrum des neuen West-Berlin herausbildeten, als Schaufenster auf einer Insel des Westens im kommunistischen Osten Europas.

      Der Breitscheidplatz wurde nach und nach umgestaltet und zu einem Platz gemacht, zu dem man möglichst schnell zu- und von dem man auch schnell wieder wegfahren konnte. Die Stadtplanung machte „Spangen“ und „Achsen“ zu ihrem neuen Dogma. Es ging vor allem darum, wie man am Rand des Platzes möglichst schnell seinen Weg entlangsausen und wieder in eine andere, noch schnellere Fahrbahn einbiegen konnte, gerne auch in einen Tunnel, wie er bis in die 2000er-Jahre hinein in Richtung Osten vom Platz wieder wegführte.

      Und so begab es sich, dass das Weihnachtsdorf vom Dezember 2016 mitten in einem Straßengeflecht zu liegen kam, das optimal auf einen Zweck ausgelegt war: auf rasches Beschleunigen in Richtung seines zentralen Punktes, und dann auf ebenso rasches Davonfahren. Nichts anderes tat Anis Amri an diesem Abend gegen 20 Uhr mit seinem LKW und seiner 25 Tonnen schweren Fracht. Die Gäste auf dem Weihnachtsmarkt, vor den Ständen mit Glitzerschmuck und den Buden mit Bratwurst und Glühwein, sie standen, von Anis Amri im Führerhaus aus gesehen, wie der rote Punkt im Zentrum einer Zielscheibe. Und die Berliner Stadtplanung hatte Anis Amri beim Zielen geholfen. Auf einer Verkehrsachse, der Hardenbergstraße, beschleunigte er voll und hielt Kurs – mitten hinein in die Gasse zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts, mitten hinein in eine Menge von Menschen, die sich dort auf einer Insel der Ruhe gewähnt hatten. Und auf einer anderen Verkehrsachse, der Budapester Straße, wollte er wieder davonbrausen. Nicht die Stadtplanung hinderte ihn daran, sondern das automatische Notbremssystem seines Lastwagens, das den Wagen mitten auf der Budapester Straße zum Stehen brachte. Für elf Personen endete die Fahrt tödlich.

      Anis Amri schaffte es noch so weit in die Achse der Budapester Straße hinein, dass er inmitten der allgemeinen Verwirrung zu Fuß die Flucht ergreifen konnte. Erst vier Tage später wurde er in Italien erschossen. Er hatte bei einer Routinekontrolle das Feuer auf Polizisten eröffnet – mit derselben Waffe, mit der er am Beginn seiner Mordserie den polnischen LKW-Fahrer in Berlin tödlich getroffen hatte.

      Schon lange hatten die Behörden Anis Amri im Visier gehabt. Er galt als verdächtig, aber doch als eher kleiner Fisch im großen Teich der islamistischen Netzwerke im Untergrund. Noch dazu hatte er seit seiner Ankunft in Europa ständig die Identitäten gewechselt. Fünf Jahre vor der Tat hatte er Tunesien verlassen und Italien erreicht, auf einem Flüchtlingsschiff, das ihn auf die Insel Lampedusa brachte. Immer wieder fiel er als Kleinkrimineller auf. Das altbekannte Muster zeigte sich auch hier. Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, ihm rechtzeitig auf die Spur zu kommen, aber das Puzzle hatte zu viele Teile. Es mangelte an Zeit, Geld und Personal, um die Teile richtig zusammenzufügen, und es fehlte manchmal auch das persönliche Geschick bei der Beurteilung der Lage.

      Aber

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