Das zerbrochene Mädchen. Fabienne Siegmund
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Читать онлайн книгу Das zerbrochene Mädchen - Fabienne Siegmund страница 4
Stella entzündete das zweite Streichholz auf den Dächern der Stadt. Neben ihr ragte St. Paul’s Kuppel in den Himmel. Sie hatte nach Little Erics Hand gegriffen, und als die zweite Flamme die Dunkelheit der Nacht wie ein kurzes Aufblitzen erhellte, war plötzlich alles anders und sie fühlte, wie sie von dem Dach hinfort gerissen wurde, in den Kamin hinein, neben dem sie gestanden hatten. Wie Rauch flogen sie durch Schwärze, nur ab und zu blitzen Lichter vorbei, ehe sie wieder verschwanden. Es ging hinauf, hinab, geradeaus und querbeet, und dann standen sie mit einem Male im Herzen des Ortes, den die Welt den Tower von London nannte.
Hier, so hatte das Zündholzflammenbild ihnen verraten, sollte Mylady Muerte zu finden sein.
Fast erwartete Stella, eine der Wachen in ihren schwarzroten Uniformen zu sehen, oder wenigstens einen der Kolkraben, die an diesem Ort seit langer Zeit gehalten wurden. Verließen die Raben den White Tower, so hieß es, würde das Königreich untergehen.
Doch nichts und niemand war zu sehen, nicht Rabe, nicht Wächter. Wie ausgestorben lag der Tower da.
Nur Little Eric stand neben ihr.
Und die Nebel waren plötzlich da. Graue Dunstschleier, aus denen sich hier und da ein Schemen zu bilden schien. Stimmen begannen zu flüstern, schienen von überall zu kommen. Stella und Little Eric sahen sich nervös um. Mit einem Male stellte Stella fest, dass selbst die Pixies fort waren. Was hieß, dass sie im Reich der Mylady Muerte sein mussten, weil die Pixies ihr dorthin nicht folgen konnten.
Stella sah sich um. Auch das Licht, das in den Innenhof des Towers fiel, war kein herkömmliches. Viel matter war es, als ob auch die Sonne vom Nebel verschleiert wäre, und fliederfarben.
Sie deutete Little Eric darauf hin. Der Schornsteinfeger sah blass aus. Und genauso ängstlich, wie auch Stella sich fühlte.
»Für mich ist der Himmel grün«, sagte er.
»Für jeden ist der Himmel hier so, wie man es sich wünscht«, erklang auf einmal eine Stimme hinter ihnen.
Erschrocken fuhren sie herum.
Die Frau, die dort stand, umgeben von eben jenen Kolkraben, die Stella schon vermisst hatte, konnte nur Mylady Muerte sein. Die Nebel, die eben noch gewispert hatten, schwiegen und verwandelten sich in schemenhafte Gestalten, die sie umringten. Stella sah Gesichter. Sie erkannte keines. Little Eric barg die Augen in den Händen. Er war es nicht gewohnt Dinge zu sehen, die es nach normalem Ermessen nicht geben konnte. Stella blickte Mylady Muerte entgegen. Wunderschön war sie. Schwarze Locken umrahmten ein blasses, ovales Gesicht, das denen von Porzellanpuppen glich, nur dass nichts ihre Wangen rötete. Ihre Augen waren durch und durch dunkelblau, sie hatte keine Iris, es tanzten nur goldene Punkte durch das Blau, als wären sie die Sterne in einer ewig währenden Nacht. Unwillkürlich verbeugte sich Stella. Die Frau, die ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid trug, das an der Taille von einer Korsage geschnürt war und am Rock durch einen Reif weit von ihrem Körper fiel, nickte leicht und trat dann einen Schritt zur Seite, woraufhin sie den Blick auf die Person freigab, die bislang hinter ihr verborgen war: Mary. Ohne weiter auf Mylady Muerte zu achten, stürzte Stella mit einem stummen Schrei auf den Lippen zu ihrer Freundin. Die beiden Mädchen umarmten sich mit Tränen in den Augen. Marys Stimme, die sie freudig begrüßt hatte, verstummte, als sie begriff, welches Opfer es der Freundin gekostet hatte, hierher zu kommen und sie erklang erneut, als sie Little Eric erkannte, der immer noch mit den Händen vor dem Gesicht da stand. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und griff dann mit der anderen Hand nach der seinen, als er sie hatte sinken lassen und auch sie sich in die Arme gefallen waren. So standen sie zu dritt da, umwoben von den Nebelgestalten, die immer wieder ihre Form verloren. Stella begriff, dass sie dafür den Rauch der Schornsteine brauchten. »Noch nie kam jemand zu mir, um die Seele eines anderen zu befreien«, sagte Mylady Muerte. Auf ihren Lippen lag ein leises Lächeln. »Aber es wurde auch nicht jeder vom König der Kobolde geküsst.« Mary und Little Eric sahen Stella fragend an, aber sie blickte nur auf die Frau in Schwarz mit den Augen der Nacht.
»Du hast deine Lieder beim Kaminkönig gelassen«, meinte diese gerade. Stella nickte. »Das war sehr großherzig von dir.«
Stella wollte sagen, dass Mary ihr das Wichtigste sei, aber dann ließ sie ihre Finger auf dem Zeitungspapier ruhen, weil sie wusste, dass das Mylady Muerte längst bekannt war. Stattdessen ließ sie ihre Blicke neben sich huschen, wo Mary und Little Eric in einer Umarmung standen, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht umarmt hätten. Stellas Herz schlug vor Freude ein wenig schneller, als sie das Glück ihrer besten Freundin sah. Aber dann räusperte sich Mylady Muerte und führte ihr wieder vor Augen, dass es mitnichten ein Happy End war. Weil es noch nicht zu Ende war. »Nichts endet«, meinte Mylady Muerte und Stella fragte sich, wo sie das bereits gehört hatte, aber sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn die Lady fuhr bereits fort: »Und doch — auch wenn es mir imponiert, dass ihr, ohne auch nur einen Moment zu zögern für die, die ihr liebt in mein Reich gekommen seid, ich kann euch euren Wunsch nicht erfüllen. Wen ich einmal zu mir rufe, der bleibt bei mir.« Stella sah, wie Mary sich von Little Eric löste und ihm ein Lächeln schenkte, als ob sie sagen wollte, dass das schon in Ordnung sei, jetzt, da sie wusste, dass er sie auch liebte. Aber Stella fand es nicht in Ordnung. Sie trat vor, auf Mylady Muerte zu und ihre Finger hasteten über das Stück Zeitungspapier, das ihr als Stimme diente. Als sie innehielt, sah die Lady sie eine ganze Weile an, wog das Angebot, das Stella ihr gemacht hatte, ab.
»Das ist ein hoher Preis, den du zu zahlen bereit bist, Stella Koboldprinzessin«, meinte sie schließlich. Stella nickte, und neben ihr schnappte Mary nach Luft, denn sie hatte verstanden, was die Freundin tun wollte. »Nein«, entfuhr es ihr, aber Mylady Muerte befahl ihr mit einer Geste zu schweigen.
»Ich glaube, ich würde dein Angebot sogar annehmen«, meinte sie. »Aber ich kann es nicht. Du bist die Prinzessin des Koboldkönigs.«
Traurig sank Stella in sich zusammen. So einfach wäre dieser Handel gewesen. Mary hätte mit Little Eric und dem Streichholz gehen sollen, und sie wäre geblieben. Die Raben krächzten, als es zu lange still blieb im Kreis der Nebelkinder.
»Ich bleibe«, sagte Little Eric auf einmal. Die ganze Zeit hatte er kein Wort gesagt, hatte nur seine Mary gehalten und ihr ab und an einen Kuss ins blonde Haar gedrückt, der mehr gesagt hatte, als tausend Worte es vermochten. Mary japste erschrocken auf, Stella tat es ihr nach.
Die Mylady Muerte wandte sich dem jungen Schornsteinfeger zu. Ihre Nachtaugen musterten ihn. »Auch das ist ein hoher Preis«, meinte sie.
Little Eric nickte. »Warum willst du ihn zahlen?« Stella sah, dass auch Little Eric längst wusste, dass Mylady Muerte den Grund schon kannte. Aber er sagte ihn trotzdem. »Ich liebe Mary«, begann er, »und ich weiß, dass Mary Stella liebt wie eine Schwester. Keine von beiden könnte ohne die andere glücklich werden.« »Aber Mary liebt auch dich«, sprach die Lady aus, was Mary Little Eric bislang nur durch Blicke gesagt hatte. »Gerade deshalb. Ich bin glücklich, und schon mein Vater hat gesagt, dass wenn man so glücklich ist, dass einem das Herz zerspringt, man beruhigt vom Dach fallen kann.« Mary drückte sich an ihn, und Stella betrachtete traurig Mylady Muerte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass Mary und Little Eric glücklich sein sollten. Aber scheinbar hatte die Banshee ihr Lied nicht für sie gesungen. Würde es vielleicht niemals singen. Mylady Muerte räusperte sich. Ihre Nachtaugen leuchteten wie Sterne, hell und dunkel zugleich. »Ich würde euch gerne alle zurück in die Stadt an der Themse lassen«, sagte sie leise, »aber das geht leider nicht. Denn auch ich habe die Regeln nicht gemacht. Ich kann keine Seele einfach so loslassen. Eine andere