Der Pontifex. Karla Weigand

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Der Pontifex - Karla Weigand

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auch bloß Dreck in den Augen des deutschen Plantagenbesitzers waren.

      Ein ganz junges Mädchen, fast noch ein Kind, vermochte vor Schmerzen kaum mehr zu laufen; immer wieder lief ihm ein dünner Blutfaden zwischen den mageren Oberschenkeln herab. Ein betrunkener Besucher ihres „Besitzers“ aus Potsdam war in der Nacht vor der Flucht mit äußerster Brutalität gegen das noch unberührte Mädchen vorgegangen.

      Der hässliche Vorfall reihte sich ein in eine ganze Serie dieser, inzwischen alltäglichen, Missbrauchsvergehen gegen schwarze Frauen. Kinder und jedes weibliche Wesen bis zu einem gewissen Alter hatten ständig damit zu rechnen, dass ein weißer „Herr“ sein „Recht“ einforderte, die „Sklavinnen“ und deren Nachwuchs, selbst kleine Jungen, missbrauchen zu dürfen.

      Auf vielen Pflanzungen besaß dieses „Recht“ auch für die schwarzen Wächter stillschweigende Geltung, um sich ihrer Ergebenheit zu versichern.

      Widersetzlichkeit der Rechtlosen wurde im Allgemeinen mit Prügeln geahndet. Wobei diese Art der Bestrafung nicht nur dem Herrn zustand, sondern auch seinen Söhnen oder Freunden, die zu Besuch weilten sowie den bereits erwähnten weißen und schwarzen Aufsehern.

      Ältere Eingeborene und kleinere Kinder waren nicht selten von Unterernährung betroffen. Wer nicht mehr oder noch nicht die volle Arbeitsleistung auf einer Plantage erbrachte, hatte mitunter mit drastischer Reduzierung der zugeteilten Essensrationen zu rechnen; ganz nach dem Motto: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“

      * * *

      Es war bereits später Nachmittag. Die letzte Mahlzeit, ihm und seinen kleineren Geschwistern von ihrer Mutter Elisa zugeteilt, hatte Maurice am vergangenen Abend zu sich genommen. Es hatte sich um fette schwarze Raupen einer großen blauschillernden Käferart gehandelt, die sie und die anderen Frauen im nahezu undurchdringlichen Gebüsch am Rande des größtenteils überwucherten Dschungelpfads gesammelt hatten.

      Sein Hunger war größer gewesen als der Ekel und er hatte das auf einer Lichtung über einem kleinen Feuerchen geröstete Viehzeug mit Todesverachtung in den Mund gesteckt und ohne viel zu kauen, heruntergeschluckt. Im Augenblick konnte sich der kleine Junge vor Hunger nur noch mühsam aufrecht halten; die von Insekten zerstochenen dünnen Beine, die in kurzen Hosen steckten, drohten dem Sechsjährigen den Dienst zu versagen.

      Seit Stunden marschierten sie auch am zweiten Tag, jeweils zu zweien und hintereinander, schweigend im Gänsemarsch einen gewundenen schmalen Pfad entlang, der kein Ende zu nehmen schien. Die Vorausgehenden bedienten sich ihrer Macheten, um das Dickicht zu lichten und lösten einander dabei regelmäßig ab. Das Tempo war auch am Ende dieses Tages noch zügig und duldete keinerlei unnötige Verzögerung.

      Maurice, beinahe im Halbschlaf, erinnerte sich an frühere Buschwanderungen, um ihre Nachbardörfer zu besuchen. Das war vor zwei Jahren gewesen, zu einer Zeit, als alles noch gut zu sein schien und er und seine Familie freie Menschen in ihrem eigenen Dorf gewesen waren. Da hatte man unterwegs gescherzt und gelacht und, um sich die Zeit zu vertreiben, während des Marschierens fröhliche Lieder gesungen.

      Eines hatte er ganz besonders geliebt. Es handelte von einer Riesenschlange und ihrem Feind, dem Leoparden, der sie fressen wollte. Aber die listige Schlange wartete ab, bis die Raubkatze eingeschlafen war und erwürgte sie dann im Schlaf. Zur Strafe wurde das Kriechtier dann von einem tembo, einer hier lebenden Waldelefantenart, zertrampelt …

      An diesem Tag jedoch sang niemand; man war auf der Flucht und es galt, unbedingte Ruhe walten zu lassen. „Keinen Laut, Freunde!“, hatte seine Mutter Elisa alle, aber besonders die kleineren Kinder ermahnt.

      „Sonst findet uns der böse weiße Mann und bestraft uns hart, weil wir ihn unerlaubt verlassen haben! Unsere einstige Freiheit haben wir längst verloren, meine Lieben“, wiederholte sie für die Erwachsenen. „Für uns gilt:

      ‚Deus dedit, Deus obstulit!’ – ‚Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen!’“, zitierte Elisa einen Spruch des Hiob aus dem Alten Testament, den sie von einem weißen Missionsbenediktiner gelernt hatte, der sie und ihre Kinder neulich getauft hatte.

      Diese Taufe war zwar nicht ausdrücklich gegen ihren Willen erfolgt – zu ernsthaftem Widerstand hatte ihr in ihrer Lage der Mut gefehlt. Aber als Christin empfand sich die schöne stolze Frau vom Stamm der Wahehe ihr ganzes Leben lang nicht.

      „Wer, wie wir, auf der Flucht ist, muss sich sputen und darf dem Feind keine Gelegenheit zum Einholen bieten“, hatte die Mutter all jenen eingeschärft, die entschlossen waren, mit ihr zu gehen und heimlich die Plantage des weißen Mannes, dessen „Schützlinge“ sie allesamt waren, zu verlassen.

      Einer der vornehmsten Häuptlingsfamilien des Landes entstammend und vor kurzem noch die Ehefrau, jetzt aber die Witwe Mkwas, des tapferen Wahehe-Oberhäuptlings, genoss Elisa den Respekt und das Vertrauen der anderen Schwarzen.

      Mtaga, so ihr ursprünglicher Name, später nach der heiligen Elisabeth „Elisa“ getauft, war es auch gewesen, die eine Gelegenheit gesucht und gefunden hatte, die schwarzen Wachtposten auf der Farm auszutricksen und der Knechtschaft zu entkommen – bis jetzt jedenfalls.

      Maurice registrierte trotz seines Alters sehr genau, dass die Gruppe es sorgsam vermied, auch nur in die Reichweite von weißen Kolonisatoren oder katholischen Missionsstationen zu gelangen, weil nach Elisas Erfahrung die Mönche und Nonnen meistens mit den deutschen Kolonialherren kollaborierten.

      Die Deutschen selbst, Offiziere und Siedler, nannten ihr Vorgehen dreist „Inobhutnahme“ oder „Schutzhaft“, welche sie der „heidnischen“ und „geistig und kulturell zurückgebliebenen Ureinwohnerschaft“ angedeihen ließen, während die frommen Missionare es vorzogen, beschönigend von „barmherziger Fürsorge im Geiste Jesu Christi“ zu sprechen …

      Als Maurice hilfesuchend nach der Hand seiner neben ihm ausschreitenden Mutter Elisa greifen wollte, wurde ihm bewusst, dass er ausnahmsweise von ihr keine Unterstützung erhoffen durfte. Die stolze junge Frau, wie selbstverständlich die Anführerin der Flüchtigen, trug nicht nur ihr vor sieben Monaten geborenes Baby, das noch gestillt werden musste, in einem Tragetuch auf dem Rücken; sie schleppte außerdem neben einem schäbigen Bündel mit dem spärlichen Gepäck der Familie noch seine zwei Jahre alte Schwester auf der Hüfte.

      Sein jüngstes Kind hatte Maurices Vater Mkwa Obembe gezeugt, nachdem es ihm gelungen war, nachts heimlich seine bereits in Obhut genommene, sprich versklavte Frau Mtaga in einer Arbeiterhütte auf der Plantage aufzusuchen, ehe er sich erneut mit seinen Kriegern in den Kampf gegen die deutschen Okkupanten gestürzt hatte. Es sollte sein letzter Waffengang werden.

      Gestorben war der Vater des Jungen als Heide, da er sich noch unter dem Galgen standhaft gegen die von einem Priester penetrant „empfohlene“ Taufe zur Wehr gesetzt hatte. Es war ihm sogar gelungen, zu fliehen, während die übrigen gefangenen Kämpfer sich widerspruchslos in ihr Schicksal gefügt hatten, als Christen hingerichtet zu werden.

      Genützt hatte ihm die Flucht allerdings nichts, da man ihn bald wieder aufgespürt und kurzen Prozess mit ihm gemacht hatte.

      Trotz seiner Erschöpfung bekam Maurice mit, dass Elisa sehr aufmerksam auf ihre Umgebung achtete, soweit das undurchdringliche Laubwerk des den Pfad säumenden Gesträuchs dies zuließ. Vor allem hatte sie ein scharfes Auge auf ihren zweiten Sohn Heinrich, genannt Henri, der am vergangenen Tag seinen vierten Geburtstag begangen hatte. Ihn ließ Elisa ein paar Schritte vor sich herlaufen, um jederzeit beobachten zu können, wie es dem Kleinen erging.

      Den sperrigen Namen hatte man dem Jungen in der katholischen Missionsstation verpasst, wo er getauft

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