Systemische Interventionen. Jochen Schweitzer

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Systemische Interventionen - Jochen Schweitzer

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wann und warum?« zu den Fragen: »Wer ist als bedeutsames Mitglied des jeweiligen sozialen Kontextes zu sehen und wer beschreibt das Problem wie?« und »Wer beschreibt das Problem und die damit verbundenen Interaktionen in welcher Weise?«

      2. Eine besondere Rolle spielen dabei die Kommunikation und die von den verschiedenen Menschen erzählten Geschichten: »Wirklichkeit« wird als Ergebnis sozialer Konstruktion angesehen, nicht als etwas, das objektiv ist und ein für allemal Gültigkeit besitzt. Jede Beschreibung eines Gesprächspartners ist gleichermaßen bedeutsam. Ein wesentlicher Aspekt der systemischen Beratung unterstützt Menschen darin, zu ihrer Art zu kommunizieren und zu den von ihnen selbst erzählten Geschichten selbstreferente Positionen einzunehmen. Selbstreferenz bedeutet hier, dass jemand sozusagen der eigene Beobachter werden kann und so über mehr Wahlmöglichkeiten verfügt, indem er oder sie ein Bewusstsein dafür entwickelt, selbst für den eigenen Anteil am Kommunikationsmuster, für die eigene Tradition der Geschichtenerzählung verantwortlich zu sein. Hilfreich ist dabei die Nutzung der Beobachtungen Anderer (Fremdreferenzen), die dem sich selbst Beobachtenden angeboten werden.

      3. Lebende und soziale Systeme werden als selbstorganisiert angesehen und dabei vor allem unter zwei Gesichtspunkten gesehen: Dynamik und Komplexität. Systeme zeigen sich zu unterschiedlichen Zeiten im Entwicklungsverlauf eher einfach oder komplex, stabil oder instabil. Veränderungsprozesse, die sich in Bereichen hoher Komplexität und großer Instabilität abspielen, sind nicht im herkömmlichen Sinn zu »steuern« (»Ganz genau so soll und muss das laufen!«), vielmehr geht es dort darum, die Randbedingungen für Musterveränderungen zu gewährleisten (Kruse 2004). Hilfe wird also eher als Rahmensteuerung oder Kontextsteuerung gesehen (Nicolai et al. 2001; Schiepek 2004 spricht in dem Zusammenhang von »Prozessmanagement«) und nicht als Verhaltenssteuerung. Anders gesagt: Eine systemische Praxis kann Gelegenheiten bieten, dass ein System »anregungsoffen für Zufälle ist« (Luhmann 1988, S. 132) und dafür sorgen, »dass die Gelegenheiten häufiger kommen, als sie von selbst kommen würden. Wie kann man von vornherein in der Kommunikation ein System so anlegen, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass irgendetwas so Nutzbares gesagt wird, obwohl man das nicht voraussehen kann?« (ebd.).

      4. Es wird versucht, sensibel für die Möglichkeiten zu sein, die in dem jeweiligen System liegen. So wird vordringlich nach Ressourcen gefragt, danach, was gut funktioniert (»Wann haben Sie das letzte Mal erlebt, dass es gut lief?«) und gefragt, ob sich in diesen Qualitäten Ansatzpunkte für Lösungen finden. Die Suche nach neuen Ideen und neuen Bildern hat Vorrang vor dem Gespräch über das, was nicht funktioniert (Conen 2007).

      5. Mit allen Beteiligten soll eine Kooperationsbeziehung entwickelt werden. Diese bezieht das fragliche soziale System, aber auch Außenstehende mit ein, etwa Kunden, andere Auftraggeber, Kooperationspartner, ja auch Konkurrenten usw. Kernfrage ist: Wie können die Beteiligten ihre Möglichkeiten so zusammenbringen, dass ein gutes Ergebnis erzielt wird?

      6. Eine besondere Herausforderung für die systemische Beratung ist es, für alle Beteiligten in diesem Kooperationsnetzwerk wertschätzende Beschreibungen zu finden, also auch hinter scheinbar destruktivem Verhalten nach dem potenziell konstruktiven Beitrag zu suchen. Lösungen haben besonders dann Bestand, wenn »alle gewinnen«.

      Was kann als »Gegenstandsbereich« systemischer Beratung verstanden werden? In der Familientherapie wird von der Erfahrungswelt einer Familie als gemeinsamer Konstruktion gesprochen, die auf einem »Familienparadigma« beruht (Reiss / Olivieri 1983), also einem Satz gemeinsam geteilter basaler Überzeugungen über die Welt. Diese Erkenntnis, dass soziale Systeme dazu tendieren, die Wirklichkeitserfahrungen der Systemmitglieder auf gemeinsam geteilte Prämissen zu beziehen, ist eine wesentliche Erkenntnis des Konstruktivismus. Stierlin (1988) spricht als Familientherapeut in diesem Zusammenhang von »Familiencredo«, Schneewind (1991) schlägt als Familienforscher den Begriff des »familienspezifischen internen Erfahrungsmodells« vor, in das das subjektive Wissen von der Familienrealität des jeweils Einzelnen einfließt. Gemeint ist dabei nicht, dass die Wirklichkeitserfahrungen der einzelnen Familienmitglieder homogen sind. Oft im Gegenteil: Vielen Konflikten in Familien liegen ja scheinbar unvereinbare Gegensätze zugrunde. Die Perspektiven der Einzelnen sind jedoch eng aufeinander bezogen, ja manchmal so sehr ineinander verschlungen, dass man als Berater nur staunend die Geschwindigkeit beobachten kann, in der die Familienmitglieder aufeinander reagieren, sich anklagen, beschuldigen und verteidigen, Aussagen »richtigstellen«, die doch so einfach zu sein schienen und sich im Gestrüpp der wechselseitigen Beschreibungen ihrer Wirklichkeiten oft heillos verirren. In Familien mit Symptomträgern zeigt sich dabei häufig, dass diese Beschreibungen nicht mehr angemessen rückgekoppelt werden, sondern dass die Erwartungen einer Person darüber, wie die andere »ist«, erstarren. Im Laufe der gemeinsamen Geschichte wurde eine Wirklichkeit erzeugt, die leidvoll und quälend erlebt wird. Der kommunikative Austausch der Familienmitglieder ist in Form starrer Muster ineinander verwoben – und genau diese Muster sind der Gegenstandsbereich systemischer Beratung. In der Sprache der Selbstorganisationstheorie kann man sagen, dass sich die beteiligten Personen auf eine bestimmte Art von Ordnung der Wirklichkeit, ein starres Muster festgelegt haben.

      Kriz (1999) überträgt in diesem Zusammenhang das Konzept des Attraktors aus der Selbstorganisationstheorie auf den Bereich menschlicher Sinnerzeugung: Ein »Sinnattraktor« ist ein (relativ) stabiler kognitiver Zustand (»Schema«), den eine Person entwickelt hat – von sich selbst, von den sie umgebenden Personen, von ihrer Umwelt; es ist eine bestimmte Form, die Welt zu sehen. Diese Sinnattraktoren folgen einer Komplettierungsdynamik, die Julian Jaynes als »Narrativierung« beschrieben hat (1993): Einzelne, isolierte Aspekte der Wahrnehmung werden mit anderen isolierten Aspekten und mit Gedächtnisstücken zu zusammenhängenden Geschichten gefügt, »narrativiert«. Das Gedächtnis »schreibt seine Lebenserinnerungen« sozusagen selbst (von Foerster 1991, Kotre 1995). So benutzen die Interaktionspartner in manchen Fällen einander nur noch, um sich gegenseitig ihre Weltbilder zu bestätigen, die Neugier aufeinander geht verloren: »Sehen Sie’s? Das war mal wieder typisch!« Das sich in jeder Familie im Laufe der Zeit einschleichende »längst Bekannte« ist hier ins Extrem gesteigert: Reagiert wird nicht mehr auf das, was geäußert wurde, sondern auf das, was aufgrund einer bereits vorliegenden Geschichte erwartet wird. Die von einer Person gebildeten Sinnattraktoren entstehen aus der Tendenz menschlicher Kognition, zu ordnen, Kategorien zu bilden, und damit Komplexität zu reduzieren. Das Erzeugen von Ordnung als »fundamentale Operation alles Lebendigen« scheint ein bedeutenderes Motiv für Menschen zu sein als das Streben nach Glück. Menschen fürchten nichts mehr als das Chaos und darum wählen sie eine Ordnung auch dann, wenn sie quälend ist.

      Beispiel

      Ein trauriges Beispiel aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Ein 13-jähriger Junge mit extrem schlechtem Selbstwertgefühl zeigte sich auf der Station sehr schwer haltbar. Im Teamgespräch wurde vereinbart, diesem Jungen besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, kleinste positive Ansätze freundlich zu kommentieren und ihm immer wieder zu versichern, dass er von den Betreuern geschätzt würde. Die Reaktion auf eine Aussage wie: »Thomas, ich mag dich richtig gern!« bestand dann jedoch in einer massiven Steigerung seiner Spannung, die Augen flackerten und er wurde unruhig und fahrig, bis er eine Tasse so auf den Boden warf, dass sie zersplitterte. In dem Moment, wo die Betreuerin dann zu schimpfen begann: »Mensch! Kannst du nicht aufpassen!«, ging eine erkennbare Entspannung durch ihn: »Ich wusste doch, dass keiner mich mag!« – Die Welt war wieder in Ordnung, so unglücklich sie auch sein mochte.

      So bestätigen sich einmal gefundene Sinnattraktoren kontinuierlich selbst, weil sie die einmal gefundene Ordnung aufrechterhalten: Die Welt ist zwar nicht schön, aber sie ist vorhersagbar, der andere »ist so und nicht anders«! Jedes Ereignis, das zu dem jeweiligen Attraktor passt, wird als »typisch« bezeichnet, Ereignisse, die davon abweichen, werden entweder ignoriert oder als »Ausnahme« gekennzeichnet. Simon / Rech-Simon (1999) sprechen in diesem Zusammenhang von der »Bestätigungslogik des Nichts-Neues-Syndroms«: »Was immer ein Familienmitglied auch tun mag, es ist immer schon klar, was das zu bedeuten hat… Jedes Familienmitglied nimmt nur bestimmte Verhaltensweisen der anderen wahr, es hat seine festgelegten Bewertungskriterien,

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