Systemische Interventionen. Jochen Schweitzer

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Systemische Interventionen - Jochen Schweitzer

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diesem Grund wird der Sinn von systemischer Beratung auch darin gesehen, »Ordnungs-Ordnungs-Übergänge« zu ermöglichen, also einen einmal gewählten »Sinnattraktor« dann verlassen zu helfen, wenn dieser für den oder die Beteiligten Leid erzeugend geworden ist, denn dieser – um noch einmal die Sprache der Selbstorganisationstheorie zu bemühen – »versklavt« als »Ordner« die Prozesse, die ihm untergeordnet sind: Denken, Gefühle und Verhalten werden durch den einmal gewählten Sinnattraktor (im Problemfall auch »Störungsattraktor« genannt) weitgehend bestimmt.

      Der Begriff »Beschreibung« und der Bezug auf Sprache könnte nun nahelegen, es ginge nur um kognitive, verstandesmäßige Prozesse. Doch Sprache tritt nicht abstrakt, sondern in Form von Geschichten auf (dies wird besonders vom »sozialen Konstruktionismus« thematisiert, z.B. Gergen 2002, auch Deissler 1997, Anderson / Goolishian 1992). Menschliches Leben findet nicht abstrakt in Sprache, sondern in einer Welt von gemeinsam geteilten und mit-geteilten Bedeutungen statt, d.h. in ständiger Konversation, im Gespräch und im Erzählen von Geschichten, wodurch wir unsere Wirklichkeit stabil halten und uns unsere Identitäten wechselseitig bestätigen – und das Erzählen der Geschichte braucht den Zuhörer: »Ich glaube, wer Geschichten erzählt, muss immer jemanden haben, dem er sie erzählt, nur dann kann er sie auch sich selbst erzählen« (Eco 2001, S. 241).

      Aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Methoden geht es nun im Beratungsprozess immer wieder um die Frage, wie es möglich wird, sich in ein solches Geflecht von sich gegenseitig stabilisierenden Geschichten »einzufädeln« und Angebote zu machen, diese Geschichte anders zu sehen, die gewohnten Beschreibungen zu dekonstruieren. Denn das Geflecht aus Geschichten trägt die Einzelnen nicht mehr flexibel, sondern ist im Laufe der Zeit zu einem Gefängnis geworden, zu einem »Problem«: Es passiert »immer dasselbe«, der andere (Kollege, Mitarbeiter, Partner oder wer auch immer) ist »so« und nicht anders: »Menschen sind unverbesserliche und geschickte Geschichtenerzähler – und sie haben die Angewohnheit, zu den Geschichten zu werden, die sie erzählen. Durch die Wiederholung verfestigen sich die Geschichten zu Wirklichkeiten, und manchmal halten sie die Geschichtenerzähler innerhalb der Grenzen gefangen, die sie selbst erzeugen halfen« (Efran et al. 1992, S. 115).

      Menschen entwickeln im Verlaufe ihres sozialen Umgangs mit anderen nicht nur ein Bild von sich selbst und eine Beziehung zum anderen, sondern auch Bilder davon, wie sie von anderen gesehen werden. Sie bilden nicht nur eigene Erwartungen an andere aus, sondern auch Erwartungen darüber, was andere von ihnen erwarten.

      Beispiel

      In einer klassischen Untersuchung befragten Laing et al. (1971) zwölf klinische und zehn unauffällige Ehepaare. Der zirkuläre Aufbau der Befragung war für die Zeit damals revolutionär: Jeder Partner wurde allein befragt, aber nicht nur darüber, was er oder sie von der Partnerschaft hielt, sondern auch dazu, was er dächte, wie sein jeweiliger Partner/seine Partnerin wohl diese Fragen beantworten würde.

      Die Ergebnisse der komplexen qualitativen Analyse zeigten – hier in aller Kürze skizziert –, dass die Störung eines Paares nicht unbedingt bei der direkten Befragung erkennbar wurde. Beispielsweise bejahte ein Mann, allein befragt, die Frage, ob er seine Frau liebe, die Frau ebenfalls. Störungen zeigten sich auf einer anderen Ebene, nämlich, was die Partner jeweils vermuteten, was der andere wohl antworten würde. Wenn also der Mann befragt wurde, ob er dächte, dass seine Frau ihn liebe, dann begann er zu zögern: Er sei sich nicht sicher. Ähnliches antwortete die Frau. Eine Stufe weiter gefragt, ob er dächte, dass sie sich von ihm geliebt fühle (und vice versa), war die Antwort oft eindeutig negativ. Störung zeigte sich also auf der Ebene der »Metaperspektive«: Was der eine vermutet, was der andere über ihn/sie denkt und was der andere vermutet, was der eine von ihm/ihr denkt (von Schlippe 2001).

      In der Systemtheorie Luhmanns (Luhmann 1984) findet sich in diesem Zusammenhang der Begriff der »Erwartungs-Erwartungen«: Eine Person bildet Erwartungen darüber aus, welche Erwartungen von anderen an sie gestellt werde. Und da eine Person nie für sich allein ist, greifen die Erwartungs-Erwartungen der verschiedenen Mitglieder eines Systems ineinander und bilden Muster, die wir (in heutiger Terminologie) als selbstorganisiert bezeichnen. Sie sind entstanden, weil sie entstanden sind – und nicht aufgrund von irgendwelchen psychopathologischen Vorgängen. Und sie halten sich aufrecht, weil sie sich aufrechterhalten. Es wird meist als wenig sinnvoll angesehen, bestimmte Ursachenkonstellationen dafür zu untersuchen. Dies ist eine ganz andere Beschreibung, als etwa soziale Situationen lerntheoretisch im Sinne wechselseitiger Verstärkung der einzelnen Familienmitglieder untereinander zu verstehen: »Erwartungs-Erwartungen veranlassen alle Teilnehmer, sich wechselseitig zeitübergreifende … Orientierungen zu unterstellen. Damit wird verhindert, dass soziale Systeme in der Art bloßer Reaktionsketten gebildet werden, in denen ein Ereignis mehr oder minder voraussehbar das nächste nach sich zieht… Die Reflexivität des Erwartens ermöglicht dagegen ein Korrigieren (und auch ein Kämpfen um Korrekturen) auf der Ebene des Erwartens selbst« (Luhmann 1984, S. 414).

      Zitat

      Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf eine bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, dass sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines anderen … Und so sind wir uns doppelt fremd, denn zwischen uns steht nicht nur die trügerische Außenwelt, sondern auch das Trugbild, das von ihr in jeder Innenwelt entsteht. Ist sie ein Übel, diese Fremdheit und Ferne? Müsste uns ein Maler mit weit ausgestreckten Armen darstellen, verzweifelt in dem vergeblichen Versuch, die Anderen zu erreichen? Oder sollte uns sein Bild in einer Haltung zeigen, in der Erleichterung darüber zum Ausdruck kommt, dass es diese doppelte Barriere gibt, die auch ein Schutzwall ist? (Pascal Mercier 2004, S. 100f.)

      Was hier in dichterischer Sprache anklingt, ist ein Phänomen, das eng mit den Erwartungs-Erwartungen verknüpft ist: das »Problem der doppelten Kontingenz«. Mit Kontingenz bezeichnet Luhmann (er folgt dabei Talcott Parsons) die Möglichkeit, dass etwas sein könnte oder auch nicht sein könnte. Im Gegensatz zum Tier haben Menschen die Möglichkeit, sich überraschend und unvorhersehbar zu verhalten. Doppelte Kontingenz bedeutet, dass dies für zwei Handelnde gleichermaßen zutrifft: Sie sind gegenseitig in ihren Handlungen nicht festgelegt. Für sich selbst erlebt jeder dies als Verhaltensspielraum, in Bezug auf den anderen als Erwartungsunsicherheit (Luhmann 1984, S. 148ff., Simon et al. 1999, S. 187). Menschen können in Bezug auf den anderen nie sicher sein. Sie müssen sich immer auf unsichere Prämissen stützen: Meint mein Gegenüber es wirklich ernst? Nur im Bereich der doppelten Kontingenz, so Luhmann, haben Begriffe wie Vertrauen und Misstrauen ihren Sinn: »Vertrauen muss kontingent, d.h. freiwillig erwiesen werden … Es hat den sozialen Funktionswert von Vertrauen nur, wenn es die Möglichkeit des Misstrauens sieht« (Luhmann 1984, S. 181). In Systemen, die um Rat nachsuchen, hat man es nun mit Prozessen zu tun, in denen gewohnte Abläufe aufgrund von Konfliktdynamiken nicht (mehr) funktionieren. Dann finden wir oft eine Situation vor, dass von den beteiligten Personen viel Zeit darauf verwandt wird, über die Beziehungen nachzudenken, nachzugrübeln. Man fragt sich, ob man geschätzt, geachtet, geliebt, zumindest noch einigermaßen akzeptiert wird – oder man geht sogar ganz sicher davon aus, dass dies nicht so ist: »Die Mitglieder einer Familie reagieren … nicht auf die Gefühle und Gedanken des jeweils anderen, sondern darauf, was sie denken und fühlen, das der andere denkt und fühlt« (Simon / Rech-Simon 1999, S. 32). Im Sinn selbsterfüllender Prophezeiung erzeugt das entsprechende Verhalten des einen beim anderen die Anspannung, die nötig ist, um die negativen Erwartungs-Erwartungen des einen zu bestätigen. Man könnte dies »Selbstorganisation zwischenmenschlichen Unglücks« nennen.

      Beispiel

      Die Geschichte mit dem Hammer

      Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen

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