Internationale Beziehungen. Christian Tuschhoff

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in Form einer neuen Großtheorie. Diese gilt so lange, bis zweifelnde Kritik zu ihrer Ablösung und einer neuen Großtheorie führt. Großtheorien sind also Sätze von widerspruchsfreien Aussagen, die eine plausible Erklärung für weltliche Phänomene liefern. In der Teildisziplin Internationale Beziehungen hat es trotz wechselseitiger teils heftiger Kritik keine Großtheorie vermocht, die Konkurrenz nachhaltig zu verdrängen. Auf welchen Annahmen Internationale Beziehungen letztendlich beruhen, ist unter Theoretikern höchst umstritten.4

       Internationale Beziehungen

       Kernbegriffe der empirischen Analyse

      Das Ziel einer empirischen Analyse ist, diejenigen Ursachen zu identifizieren, die mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit die vermutete Wirkung erzeugen.

      imageUntersuchung (Analyse): Dies ist die Aktivität der Forscher, die das Ziel verfolgt, einen Zusammenhang zwischen vermuteten Ursachen und vermuteten Wirkungen herzustellen und nachzuweisen, dass dieser Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit besteht.

      imageUrsache: Darunter versteht man diejenige Vermutung unter mehreren, die sich aufgrund der Untersuchung als allein oder in Kombination mit anderen als eigentlich wirkungsmächtig herausstellt.

      imageWirkung: Dies ist das beobachtete und beschriebene Ergebnis, das eine oder mehrere Ursachen mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit hervorbringen; die Wirkung soll erklärt werden.

      imageErklärung: Darunter versteht man den Nachweis, dass eine oder mehrere Ursachen tatsächlich eine Wirkung erzeugen und dass dieser Zusammenhang mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit empirisch belegt werden konnte, d. h.; Änderungen von Ursachen führen tatsächlich zu Änderungen der Wirkungen.

      Auswahl aus Großtheorien

      Die beschriebene Vorgehensweise bei der Untersuchung internationaler Beziehungen (image Kap. 1) – drei Schritte auf drei Analyseebenen – ist sehr allgemein und identifiziert eine Vielfalt möglicher Erklärungen vieler verschiedener Phänomene. Der Forscher muss sich jedoch häufig auf wenige mögliche Ursachen beschränken, die er für besonders wichtig oder wirksam hält. Die Untersuchung aller möglichen Ursachen würde seine Arbeitskraft überfordern. Es ist deshalb sinnvoll, eine Auswahl zu treffen von denkbaren Ursachen, die Phänomene vermutlich besonders gut erklären könnten und daher der vorrangigen Analyse bedürfen. Bei der Frage, welche Ursachen zur Erklärung bestimmter Wirkungen ausgewählt werden sollen, helfen sogenannte Großtheorien der Internationalen Beziehungen. Wie ein Spotlight in einer Disco beleuchten sie wesentliche Ausschnitte der Wirklichkeit und tauchen andere ins Dunkel. Wenn Forscher solche Theorien zur Auswahl wichtiger Ursachen heranziehen, dann schließen sie sich den Annahmen an, die diesen Großtheorien zugrunde liegen. Diese Annahmen sind in der Literatur eingehend beschrieben und müssen nicht mit viel Aufwand wiederholt werden. Notwendig ist nur, dass man darauf hinweist, welchen Ursache man mit welcher Großtheorie in Verbindung bringt.

      Die wichtigsten Annahmen und Aussagen der vier Großtheorien Realismus, Institutionalismus, Liberalismus und Konstruktivismus werden im Folgenden knapp zusammengefasst, weil in weiteren Kapiteln darauf Bezug genommen wird.5 Statt eine dieser Großtheorien zu bevorzugen, wird in diesem Buch die Auffassung vertreten, dass alle einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis von Fragen Internationaler Beziehungen beitragen können.6 Die Auswahlentscheidung obliegt dem Forscher, der eine Untersuchung durchführt. Die von den Großtheorien identifizierten Ursachen können nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit Zusammenhänge in internationalen Beziehungen erklären. Dem Anspruch, eine umfassende Erklärung für alle Phänomene Internationaler Beziehungen zu liefern, wird keine Großtheorie gerecht.

      Die Ideenwelt des Realismus7 ist reichhaltig und reicht bis zum Philosophen Thucydides (460–400 AC) in der griechischen Antike zurück. Politisch wurde der Realismus während des Kalten Krieges zur einflussreichsten Denkschule. George Kennan, Hans Morgenthau und Henry Kissinger gelten als die wichtigsten Vertreter. Die moderne Politikwissenschaft entwickelte den klassischen Realismus dieser Autoren fort zum Neorealismus. Dessen herausragende Vertreter sind Kenneth N. Waltz; John J. Mearsheimer, Robert Gilpin, Joseph Grieco oder Joanne Gowa. In Deutschland wird er vor allem von Werner Link und Carlo Masala vertreten.

      Anarchie

      Die Internationalen Beziehungen verdanken der neorealistischen Theorie zwei Schlüsselannahmen.8 Die erste lautet: Das internationale System ist von Anarchie gekennzeichnet.

      Dieses Merkmal ist der wesentliche Unterschied zwischen internationalen Beziehungen und der Politik innerhalb von Staaten, denn dort herrscht ein Gewaltmonopol, dem sich die Bürger als Akteure unterordnen müssen. Diese Annahme wird mittlerweile von den allermeisten Autoren geteilt, auch wenn sie sich nicht der realistischen Denkschule zurechnen (Lake 2009: 1–2).

       Definition

       Anarchie in Internationalen Beziehungen

      Unter Anarchie wird nicht Chaos verstanden, sondern die Abwesenheit einer zentralen Autorität, die es vermag, für alle Akteure bindende Regeln zu setzen und gegen Widerstände durchzusetzen. Anarchie ist das Gegenteil von Hierarchie, denn alle Akteure sind im Prinzip ähnlich und einander gleichgestellt. Ähnlich bedeutet, dass sie alle dieselben Funktionen ausüben.

      Staaten als Akteure

      Die zweite Annahme lautet: Staaten sind die zentralen oder sogar einzigen Akteure in Internationalen Beziehungen. Alle anderen Arten von Akteuren können bei der Forschung vernachlässigt werden. Staaten werden auch nicht (wie z. B. von den Vertretern des Liberalismus; image Kap. 2.2.3) weiter nach verschiedenen Akteuren untergliedert.

      Selbsthilfe

      Von der Anarchie als Merkmal des internationalen Systems geht nun eine ganz erhebliche Wirkung aus: Sie legt die Interessen und Interaktionen der Akteure fest. Denn wenn es keine übergeordnete Autorität gibt, die die Akteure – also Staaten – notfalls voreinander schützen wird, dann müssen diese selbst für ihre Sicherheit – im Extremfall für ihr Überleben – sorgen. Da sie sich auf keine Autorität verlassen können, sind sie auf Selbsthilfe angewiesen. Neorealisten bezeichnen das internationale System deshalb auch als »anarchisches Selbsthilfesystem«.

      Sicherheitsdilemma

      Wenn Staaten sich nicht auf eine übergeordnete Regierung mit Polizei und Justiz, die sie notfalls vor anderen Staaten schützt, verlassen können, rückt die Herstellung von Sicherheit an die erste Stelle der Liste staatlicher Interessen. Kein anderes Interesse ist wichtiger. Alle Staaten müssen sich daher ausreichende Kapazitäten verschaffen, um sich gegen die Angriffe anderer Staaten schützen zu können. Zu diesem Zweck werden sie militärisch aufrüsten. Von diesen Aufrüstungsmaßnahmen werden sich aber andere Staaten zwangsweise bedroht fühlen. Denn diese können nicht wissen, ob ein Staat aufrüstet, um sich selbst

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