Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems страница 25

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

Скачать книгу

ex negativo, Großstadtvermeidungsromane, denn was immer in ihnen an ländlichen Szenen entworfen wird, gewinnt seine Bedeutung nur im Bezug zu der großstädtischen Lebensweise, die inzwischen ja auch über den Deutschen heraufzieht, als deren Gegenbild und kritischer Kommentar.

      So hat es bis in die späten achtziger Jahre gedauert, bis auch deutsche Großstadtromane entstanden. Hier ist etwa an den dreibändigen Roman „Was die Isar rauscht“ (1887–1890) des Naturalisten Michael Georg Conrad zu denken, einen München-Roman in der Nachfolge von Zola, der seinerseits an die Paris-Romane von Balzac angeknüpft hatte, oder an die Berlin-Romane des Realisten Theodor Fontane, der sich im Alter noch zu einem halben Naturalisten entwickelte, an Romane wie „Irrungen, Wirrungen“ (1888), „Stine“ (1890) und „Frau Jenny Treibel“ (1892). In ihnen wird man freilich noch immer vergeblich suchen, was für Baudelaire die entscheidende Quelle einer modernen Großstadtdichtung ist: das Aufgehen in der Menge als ein Erleben, das zugleich der Ort einer „universellen Kommunion“ und einer existentiellen Selbstbegegnung, einer rauschhaften „Verbundenheit mit dem Allgemeinen“ und eines Innewerdens dessen wäre, „daß ich bin und was ich bin“.

Die Großstadt im deutschen Symbolismus

      Am längsten hat sich im deutschen Sprachraum die Lyrik dem Großstadtleben verweigert, also eben die Gattung, die für Baudelaire das bevorzugte Medium der Großstadtdichtung war. Das Modell des Naturgedichts hatte eine solche prägende Kraft, daß man sich eine lyrische Selbstaussprache in großstädtischem Ambiente zunächst kaum vorstellen konnte. Das gilt auch für die deutschen Symbolisten, und dies obwohl sie als bekennende Moderne das Leben von Großstadtmenschen führten und obwohl sie ihre Vorbilder vor allem bei den französischen Symbolisten fanden. So viel sie aber auch sonst bei Baudelaire und dessen Schule gelernt hatten – seine Vorstellungen von Großstadtleben und Großstadtdichtung übernahmen sie nicht. Statt dessen blieben sie weithin bei dem Bild, das die Romantiker von der großen Stadt gezeichnet hatten – kein Wunder, wenn seinerzeit der Begriff der Neuromantik die Runde machte.

      So erinnert etwa die folgende Passage aus dem lyrischen Einakter „Der Tod des Tizian“ (1902) von Hugo von Hofmannsthal bis in einzelne Formulierungen hinein an das Bild der „bösen Stadt“, das wir bei Eichendorff kennenlernt haben. Wiederum soll es der Blick von oben erlauben, das Wesen der Großstadt zu erfassen.

      Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?

      Gehüllt in Duft und goldne Abendglut

      Und rosig helles Gelb und helles Grau,

      Zu ihren Füßen schwarzer Schatten Blau,

      In Schönheit lockend, feuchtverklärter Reinheit?

      Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen,

      Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit,

      Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen;

      Und was die Ferne weise dir verhüllt,

      Ist ekelhaft und trüb und schal erfüllt

      Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen (…). (HGW 1, 253)

      In die gleiche Richtung zielt eine Reihe von Gedichten des lyrischen Zyklus „Das Stundenbuch“ (1905) von Rainer Maria Rilke.56 In ihnen sucht der Autor einen ersten längeren Aufenthalt in Paris zu verarbeiten, der sich für ihn zu einer zutiefst verstörenden Erfahrung gestaltet und mit der Flucht nach Italien geendet hatte. Da heißt es etwa:

      Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen

      den Tag, die Nacht, die Tiere und das Kind;

      ihr Schweigen lügt, sie lügen mit Geräuschen

      und mit den Dingen, welche willig sind. (DG 80)

      Oder:

      Denn, Herr, die großen Städte sind

      verlorene und aufgelöste;

      wie Flucht vor Flammen ist die größte, –

      und ist kein Trost, daß er sie tröste,

      und ihre kleine Zeit verrinnt.

      Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,

      in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,

      geängsteter denn eine Erstlingsherde;

      und draußen wacht und atmet deine Erde,

      sie aber sind und wissen es nicht mehr. (DG 79)

      In einer modernen Großstadt kann man nicht wirklich leben, nicht wirklich am „Atmen der Erde“ teilhaben. Indem sie die Nacht zum Tage macht, zerstört sie das Zeitmaß des Lebens. Sie läßt das Tier nicht tiergemäß und das Kind nicht kindgemäß leben, läßt damit eben die beiden Wesen nicht sie selbst sein, in denen nach Rilkes Überzeugung das Leben in besonderem Maße zur Geltung kommt, die nichts als Leben sind. Sie nimmt den „Dingen“ die Würde, die sie als eigensinnig lebendiges Gegenüber des Menschen haben, macht sie zu „willigen“, „feilen“ Objekten allfälligen Gebrauchs und gedankenloser Vernutzung. Hier sperrt sie die Menschen in „tiefe Zimmer“ ein, dort jagt sie sie durch die Straßen, als sei das Inferno hinter ihnen her; sie bannt sie in einen Zustand zwischen Angst und Hetze, der sie nicht zu sich selbst kommen läßt. So wird sie zu einem Raum, in dem sich das breitmacht, was der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976), der übrigens ein starker Rilke-Leser war, „Seinsvergessenheit“ genannt und zum entscheidenden Schwachpunkt der Moderne erklärt hat: „sie aber sind und wissen es nicht mehr“.

Vom Symbolismus zum Expressionismus

      Rilke bezieht hier mithin eine Position, die das genaue Gegenteil dessen bezeichnet, was für Baudelaire gilt: daß die Einkehr in die Wirklichkeit der Großstadt dazu verhelfe „zu leben, zu fühlen, daß ich bin und was ich bin“. Dabei bleibt es jedoch nicht. Rilke kehrt nach Paris zurück und arbeitet sich Schritt für Schritt an eine Großstadtdichtung heran, wie sie Baudelaire gefordert hatte. Davon zeugen zunächst seine „Neuen Gedichte“ (1907/08) und sodann der Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910), ein Werk, das alle Züge eines modernen Großstadtromans aufweist. In ihm bekennt sich Rilke – gerade er, der von seinen Kritikern gern als Schoßhund der Gesellschaft abgetan worden ist – zum Modell des Dichters als armer Hund, als „chien flâneur“, der in den Straßen der großen Stadt herumirrt und eben hier, inmitten des urbanen „Durcheinanders“ und in enger Fühlung mit Elend und Schmutz seine entscheidenden Erfahrungen macht, Erfahrungen, die ihn – mit Rilkes eigenem Wort – immer „seiender“ werden lassen.

      Da befinden wir uns freilich bereits im Jahr 1910, an der Schwelle zum Expressionismus, und das ist der Moment, in dem die deutsche Literatur endgültig und in all ihren Formen in die moderne Großstadt einzieht, auch im Gedicht.57 Das bedeutet jedoch nicht, daß man die Welt der Großstadt nun sehr viel anders sehen würde als in den Jahrzehnten zuvor – im Gegenteil: gerade für den Frühexpressionismus ist sie weiterhin und mehr denn je eine Welt von monströser „Häßlichkeit“ und „Gemeinheit“, ein Ort des Gehetztseins und der Lebensangst; gerade für ihn bleibt sie die „ungeheure Dirne“ mit dem „infernalischen Charme“. Doch will man nun überall eingesehen haben, daß sie auch so, als „Hure Babylon“, der Kunst mehr zu bieten habe als die Unschuld vom Lande und die Sennerin auf der Alm. In der großen Stadt entscheidet sich das Schicksal der Menschheit, im Guten wie im Bösen, und so kann es für eine Literatur, die auf sich hält, die an diesem Schicksal teilhaben und es mitgestalten will, keinen anderen Platz mehr geben als sie.

Richard Dehmel: „Predigt ans Großstadtvolk“

      Der Umschwung wird in zwei Gedichten aus den Jahren 1907 und 1910 besonders gut greifbar, von denen das zweite eine Replik auf das erste ist. Das frühere Gedicht stammt aus der Feder von Richard Dehmel (1863–1920),

Скачать книгу


<p>56</p>

Manfred Engel, Dorothes Lauterbach (Hrsg.): Rilke-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart Weimar 2004.

<p>57</p>

Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik. Eine Einführung. München u. a. 1983.