Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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daß sich ihr programmatischer Modernismus einmal genauso zu einem „Bann der Überlieferung“ auswachsen würde wie Klassizismus, Romantizismus und Realismus, hatten noch nicht erleben müssen, wie sich Kunst und Literatur darüber in den „Konflikt der modernen Kultur“, die „Aporien des Avantgardismus“ (Hans Magnus Enzensberger) verstrickten. Für sie standen ganz andere Fragen im Vordergrund, vor allem die, ob es ihnen gelingen würde, eine Formensprache zu schaffen, die den Erwartungen an eine wahrhaft moderne Literatur genügen könnte.

      3 Naturalismus und Symbolismus

Das französische Vorbild

      Das poetologische Programm, das am Anfang des Wegs der deutschen Literatur in die Moderne steht, wird, wie wir gesehen haben, von einer neuen Generation von Autoren bereits mit großer Überzeugung verfochten, noch bevor sie Werke vorzuweisen haben, die als modern gelten könnten, die man jedenfalls aus heutiger Sicht modern nennen würde. Was sie mit solcher Entschiedenheit auf einen programmatischen Modernismus setzen ließ, war nicht nur das unabweisliche Gefühl, daß die alte Literatur, daß Realismus und Epigonendichtung abgewirtschaftet hätten und daß etwas Neues kommen müsse; es war auch der Blick über die Grenzen der deutschen Literatur hinaus, der Blick nach Frankreich, nach Paris. Denn da gab es bereits eine moderne Literatur, und es gab sie sogar schon in zwei Varianten, in Gestalt zweier Schulen, die jede auf ihre Weise einen programmatischen Modernismus praktizierten: der Schulen von Naturalismus und Symbolismus. Es waren sie, die den deutschen Autoren verbürgten, daß eine wahrhaft moderne Literatur möglich sei, und die ihnen eine Vorstellung davon vermittelten, wohin die Reise gehen würde.

      Die Leitfigur des Naturalismus war Emile Zola (1840–1902). Zola war um 1880 mit einer Reihe von Programmschriften und Romanen hervorgetreten, mit denen er ebensowohl die theoretischen Grundlagen wie einige erste Beispiele für die Literatur der neuen Bewegung geschaffen hatte. Zugleich hatte er eine Reihe von jungen Autoren um sich geschart, die mit ihm für seine Ziele stritten. Diesem Kreis trat um 1885 ein zweiter an die Seite, dessen Mittelpunkt Stéphane Mallarmé (1842–1898) war. Hier setzte man vor allem auf die Ideen von Baudelaire, auf die Begriffe von moderner Kunst und die Formen von Symbolik, die dieser kultiviert hatte – die Schule des Symbolismus.

      Die Aktivitäten der beiden Gruppierungen wurden in Deutschland von Anfang an aufmerksam verfolgt. Dabei begnügte man sich vielfach nicht mit der Lektüre der Schriften, die nach Deutschland gelangten; wer es genau wissen wollte, ging gleich selbst nach Paris, um die neue Kunst vor Ort zu studieren. So suchte etwa Michael Georg Conrad, den der Beruf des Journalisten 1878 nach Paris gebracht hatte, den Kontakt zu Zola und seinem Kreis. 1882 nach Deutschland zurückgekehrt, tat er dann alles, um seine Landsleute für die Ideen von Zola zu gewinnen, mit dem Ergebnis, daß sich bald schon ein erster Zirkel von deutschen Naturalisten um ihn bildete. Und so ging Stefan George 1889 nach Paris, um Mallarmé und seinen Kreis kennenzulernen. Und wie Conrad nicht nur die Konzepte des Naturalismus, sondern auch die Formen nach Deutschland mit zurückbrachte, in denen sich die neue Bewegung organisiert hatte, so brachte George ebensowohl die Ideen des Symbolismus wie das Modell des Mallarmé-Kreises mit nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis sich um ihn jene Gruppierung formiert hatte, die als „George-Kreis“ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wer nicht in Paris gewesen war, der tat wenigstens so, als unterhalte er enge Kontakte dorthin; so findet sich in „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze“ (1891) von Arno Holz, einer vielberufenen Programmschrift des deutschen Naturalismus, ein langer, in französischer Sprache abgefaßter Offener Brief an Zola – eine Reaktion des Adressaten ist nicht bekannt.39

Paris als Zentrum der modernen Kunst

      Paris wird nun überhaupt zum wichtigsten Ziel von Künstlern und Literaten, um es ein gutes halbes Jahrhundert zu bleiben. Es löst damit Rom ab, dessen Besuch bis dahin ein Muß für jeden werdenden Künstler war. In Rom konnte man dem Erbe der Antike unmittelbar begegnen, und das galt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis zu den letzten Nachzüglern im „Epigonenschweif der Antike“, als unabdingbare Voraussetzung für jede wahre Kunstübung. Goethe selbst hatte dies mit seiner „Italienischen Reise“ (1816–1829) noch einmal eindrucksvoll bezeugt und damit sein Teil dazu beigetragen, daß das Institut der „Grand Tour“, der Bildungsreise nach Italien, im 19. Jahrhundert eine letzte Blüte erlebte. Wer es sich leisten konnte, legte sich wie der „Dichterfürst“ Paul Heyse gleich eine Villa auf Capri zu. Auch Michael Georg Conrad hatte, bevor er nach Paris ging, sechs Jahre in Neapel gelebt; das Italienerlebnis trat bei ihm allerdings bald völlig hinter den Pariser Eindrücken zurück. Der unglückliche Verlauf des „Römischen Aufenthalts“ von Gerhart Hauptmann läßt besonders deutlich erkennen, daß am Ende des 19. Jahrhunderts ganz andere Erfahrungen not taten als die einer traditionellen Italienreise, Erfahrungen, wie man sie nicht in dem gesellschaftlich und ökonomisch rückständigen Italien, wie man sie nur an einem Brennpunkt des modernen Lebens machen konnte.

      Ein solcher Brennpunkt war die große Stadt Paris, und sie war es mehr als jeder andere Ort in Europa. Zwar waren die moderne Demokratie, die technisch-industrielle Produktionsweise und der moderne Kapitalismus von England ausgegangen, und London war und blieb die größere Großstadt – Paris hatte 1881 2,3 Millionen, London 3,8 Millionen Einwohner – doch hatten sich die Kämpfe zwischen den Kräften des Fortschritts und den Mächten der Beharrung in Frankreich mit seinen vielen Revolutionen und seinem wiederholten Wechsel des politischen Systems auf dramatischere Weise gestaltet als in jedem anderen Land, und das heißt: in Formen, durch die Kunst und Literatur stärker in diese Kämpfe mit einbezogen und intensiver von den Problemen der Modernisierung erfaßt und durchdrungen wurden. So wurde Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), schließlich auch zum Schauplatz der Revolutionen, aus denen die moderne Kunst hervorging.

      Das gilt für alle Künste, nicht nur für die Literatur, ganz besonders aber für die Bildende Kunst. Paris war der Ort, an dem 1874 mit einer spektakulären Ausstellung von Künstlern wie Edouard Manet (1832–1883), Paul Cézanne (1839–1906) und Claude Monet (1840–1926) der Siegeszug des Impressionismus begann, einer Schule der Malerei, die zur entscheidenden Station auf dem Weg der Kunst in die Moderne wurde. An ihrem Erfolg hatte übrigens auch Emile Zola, ein Schulfreund von Cézanne, seinen Anteil, hat er doch für die neue Malerei nicht weniger energisch gestritten als für die naturalistische Literatur. Und auch vieles von dem, was sich aus dem Impressionismus entwickelte, auch die Kunst des Fauvismus, Kubismus, Futurismus und Surrealismus verdankte sich wesentlich Entwicklungen in der Pariser Szene.

      Einzig in der Musik war Paris nur ein Schauplatz neben anderen; hier war Wien als Standort der „Zweiten Wiener Schule“, der Schule von Arnold Schönberg (1874–1951), letztlich von größerer Bedeutung. Immerhin sah Paris mit der Uraufführung des „Sacre du Printemps“ (1913) von Igor Strawinsky (1882–1971) das Ereignis, das als der Durchbruch der Neuen Musik gilt. So mag Gertrude Stein Recht haben, wenn sie Paris zum „natürlichen Hintergrund der Kunst und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts“ erklärt: „Paris was where the twentieth century was“.40

Faktoren der literarischen Entwicklung

      Der Blick auf die französischen Wurzeln von Naturalismus und Symbolismus macht uns sogleich auf einige Momente aufmerksam, die für das Verständnis der Entwicklung von besonderer Bedeutung sind und die wir uns nicht entgehen lassen wollen. 1. Die moderne Literatur ist ein Kind der modernen Großstadt, ist eine Pflanze, die nur in dem Biotop der modernen großstädtischen Lebenswelt hat aufkommen und gedeihen können. 2. Sowohl ihre ersten Anfänge als auch viele weitere Entwicklungsschritte sind mit der Bildung kleiner und kleinster Zirkel von Gleichgesinnten verknüpft, die sich als Avantgarden, als Vorhut und Motor der Entwicklung verstehen und deren Mitglieder als Gruppe auftreten und in engstem Austausch zu Werke gehen. So überschaubar diese Gruppen auch sein und so elitär und esoterisch sie sich geben mögen – sie sind 3. von Anfang an über die Grenzen der Kulturräume hinweg vernetzt und verstehen sich 4. auf die Kunst, auf die Öffentlichkeit einzuwirken und ein breites Publikum

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<p>39</p>

Rolf Sältzer: Entwicklungslinien der deutschen Zola-Rezeption von den Anfängen bis zum Tod des Autors. Bern u. a. 1989.

<p>40</p>

Stein: Paris (Anm. 32), S. 11.