Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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Das Problem ist also früh schon gesehen worden; ob aber die Analyse zureicht, die ihm Simmel hat angedeihen lassen, darf wohl bezweifelt werden. Wenn es wirklich auf einen Konflikt des Lebens überhaupt zurückzuführen wäre, dann wäre zu fragen, was an ihm das spezifisch Moderne sein sollte; dann hätte es sich eigentlich zu allen Zeiten zeigen müssen, und wenn das nicht oder nicht in der gleichen Weise wie in der Moderne der Fall gewesen sein sollte, dann müßte hier etwas hinzugetreten sein, das es allererst hätte virulent werden lassen, ein Moment, das nicht im Leben, das überhaupt nicht in den natürlichen Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung, sondern in dieser selbst zu suchen wäre. Da wäre dann zunächst und vor allem an die Modernisierungsdynamik zu denken, wie sie alles einmal Geschaffene, alle Formen und Strukturen und alle Traditionen und Konventionen, die diese am Leben erhalten, unter den Generalverdacht des Überlebten stellt, aber auch an einen Lebensbegriff, wie ihn Simmel gebraucht, einen, der sich an die Modernisierungsdynamik angepaßt hat und demgemäß nur den Schaffensprozeß selbst als lebendig anerkennt und alles Geschaffene als tot abqualifiziert.
Das kann man natürlich auch anders sehen, und man kann es durchaus auch als engagierter Moderner. So hat etwa die amerikanische Autorin Gertrude Stein (1874–1946), eine zentrale Figur des Avantgardismus, erklärt: „Life is tradition and human nature“,32 Leben ist Tradition und menschliche Natur. Der Satz findet sich bezeichnenderweise in dem Werk, in dem sie die Summe ihrer künstlerischen Erfahrungen zieht, in dem späten experimentellen Text „Paris, France“ (1940). Für Stein gehört das kulturelle Erbe genauso zum Leben wie die Natur. Traditionen und Konventionen ermöglichen Leben, indem sie es auf eine feste Grundlage stellen und ihm mit dem, was sie ihm an Stoffen und Formen zuführen, zu tun geben, und sie stimulieren und befruchten es selbst dort und gerade dort, wo es sich an ihnen reibt; ohne die selbstverständliche Gegenwart des kulturellen Erbes kein schöpferisches Leben, auch nicht in der Moderne.33
Von einer solchen Sicht der Dinge sind die ersten Modernen freilich noch weit entfernt; der Historismus und der epigonale Kunstbetrieb des ausgehenden 19. Jahrhunderts lasten zu schwer auf ihnen, als daß sie dem Phänomen der Traditionsbildung etwas Positives abgewinnen könnten. So entfaltet sich die moderne Kunst und Literatur in einem konfliktgeladenen Wechselspiel zwischen dem Versuch, der Vision einer neuen Kunst mit dem Aufbringen neuer Themen und Formen Leben einzuhauchen, und einem Dogmatismus der Offenheit, der solche „Präzisierung der Moderne“ wegen der Gefahr einer neuerlichen Traditionsbildung mit „Prinzipien“, „Idealen“, „Dogmen“ und „Autoritäten“ sogleich wieder kassiert.
Die Möglichkeit der dogmatischen Verfestigung eines bestimmten Begriffs von moderner Kunst ist allerdings erst in dem Moment zu einer realen Gefahr für das Ringen um Offenheit geworden, in dem man begann, von der Moderne als Epoche zu reden. Denn da mußte man dann in der Tat versuchen, ein „Ideal“ moderner Kunst zu konstruieren, nämlich „Prinzipien“ herauszuarbeiten und dogmatisch festzuschreiben, die sie von der Kunst früherer Epochen unterscheiden würden; da wurden allgemeine Aussagen wie die unumgänglich, die moderne Literatur tendiere zu Atheismus und Materialismus, bevorzuge Formen wie Freie Rhythmen, Fragment und Montage, usw. Und wirklich hat man bereits kurz nach der Jahrhundertwende begonnen, von den Jahren seit 1885 als einer eigenen, besonderen Epoche zu sprechen. So hat zum Beispiel der Berliner Schriftsteller und Literaturkritiker Samuel Lublinski (1868–1910) schon 1904 eine vielbeachtete „Bilanz der Moderne“ vorgelegt, um ihr 1909 gar eine Schrift folgen zu lassen, der er den Titel „Der Ausgang der Moderne“ gab.
Wo man aber von der Moderne als einer Angelegenheit handelt, die wie einen Beginn, so auch einen „Ausgang“ hätte und von der sich eine „Bilanz“ aufmachen ließe, da ist die Idee einer „Postmoderne“ nicht mehr fern. In der Tat lassen sich die beiden Schriften von Lublinski als ein früher Anlauf zu einer Theorie der Postmoderne begreifen, auch wenn er das Wort „postmodern“ noch nicht kennt und mit seinen Versuchen womöglich nicht besonders weit gekommen ist.
Hier wie überall, wo man sich an einer solchen Theorie versucht, ist die zentrale Frage, was der Gegenwart an Entwicklungen zugesprochen wird, die es erlauben, ihr einen Ort jenseits der Moderne zuzuweisen. Soll es das Abrücken von einem dogmatisch verfestigten, in einem bestimmten Epochenbild festgeschriebenen Begriff von Moderne und die Erneuerung des Dogmatismus der Offenheit sein, oder aber umgekehrt die Abkehr von dem Dogmatismus der Offenheit und Wiedergewinnung eines produktiven Verhältnisses zu den Traditionen von Kunst und Kultur und zu dem Institut der Traditionsbildung überhaupt? Streng genommen, müßte es sich eigentlich um ein Drittes handeln: um die Überwindung des „Konflikts der modernen Kultur“, des zum Automatismus erstarrten Hin und Her zwischen der dogmatischen Verfestigung neuer Formen und ihrer nicht minder dogmatischen Wiederauflösung – wie immer dies im einzelnen zu denken sein mag.
Lublinski tritt für die zweite Option ein; er meint, in der Literatur der Zeitgenossen ein Erlahmen des Pathos der Innovation und eine neue Offenheit für das kulturelle Erbe, auch für das klassische Erbe, wahrnehmen zu können. Doch damit irrte er sich. Denn in dem gleichen Jahr 1909, in dem er seinen „Ausgang der Moderne“ vorlegte, trat F. T. Marinetti in Paris mit dem „Manifest des Futurismus“ an die Öffentlichkeit, das zur Initialzündung für eine ganze Reihe von neuen Avantgarden wurde, und gründete Kurt Hiller (1888–1972) in Berlin den „Neuen Club“, in dem die ersten Expressionisten zusammenfanden. Hier wie dort wurden die Forderungen der ersten Modernen nicht einfach nur erneuert, sondern auf eine Weise zugespitzt, die ihnen eine besonders große Durchschlagskraft verschaffte, so daß das kulturelle Leben nun heftiger aufgemischt wurde als je zuvor. Damit hatte sich die Idee der Postmoderne fürs erste erledigt; der Avantgardismus ging in eine neue Runde.
Damit die Vorstellung von einer Postmoderne wirklich Fuß fassen und zu einem Kristallisationspunkt des Nachdenkens über die Moderne werden konnte, mußte die Welt erst sehr viel mehr an Avantgarden erlebt und an moderner Kunst und Literatur gesehen haben und mußte sich deren Wahrnehmung in ganz anderem Maße zum Bild einer Epoche verdichtet haben als zu Zeiten Lublinskis. So dauerte es bis in die sechziger, siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis sich ein Postmoderne-Diskurs etablieren konnte.34 Wie sehr sich die Vorstellung von der Moderne als einer Epoche bis dahin verfestigt hatte, ist vor allem daran zu erkennen, daß man inzwischen begonnen hatte, von der Kunst und Literatur der ersten Dezennien des Jahrhunderts als von der „klassischen Moderne“ zu sprechen.
Das Prädikat klassisch zeigt an, auf welche Weise sich der Blick auf sie verändert hatte. Hier wie überall verweist es auf ein Zugleich von Distanz und Nähe. Einerseits konnte man die Kunst der Ersten Moderne nicht mehr als Kunst der Gegenwart empfinden, schaute man auf sie als etwas in geschichtliche Ferne Gerücktes, historisch Gewordenes zurück, und dies um so mehr, als eine dezidiert moderne Kunst und Literatur in der Zeit des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs fast völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden war, es inzwischen also wirklich so etwas wie einen „Ausgang der Moderne“ gegeben hatte. Andererseits fühlte man sich ihr aber auch wieder nahe, näher jedenfalls als der Kunst der Jahre 1933–1945; nicht umsonst hatte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg darangemacht, „eine ähnliche Stilaufbruchsbewegung wie 1910–1920“ auf den Weg zu bringen, eine „Phase II“ der Moderne (G. Benn),35 eine Zweite Moderne, für die die Erste Moderne das klassische Vorbild war.
Und so waren Autoren wie Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Franz Kafka und Robert Musil zu „Klassikern der Moderne“ geworden, zu „Autoritäten“, von deren Werken aus sich „Prinzipien“ einer modernen Literatur entwickeln ließen, ein „Ideal“ moderner Kunst, das sich als „Dogma“ handhaben ließ. Als
32
Gertrude Stein: Paris France. New York London 1940, S. 8.
33
Gottfried Willems: „Frei um zivilisiert zu sein und zu sein“. Das Verhältnis von moderner Kunst und Zivilisationskritik im Licht von Gertrude Steins „Paris Frankreich“. Erlangen Jena 1996.
34
Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 2. Aufl. Weinheim 1988.
35
Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. Hrsg. v. Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder. Bd. 2. Wiesbaden 1979, S. 225.