Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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Darin bezeugt sich nicht nur, welches Potential die Konzepte hatten, die von der ersten Generation der Modernen entwickelt worden waren, und wie durchschlagend ihre Wirkung war; es zeigt sich darin auch ihre innere Grenze. Offenbar war nichts von dem, was die ersten Modernen an Neuem geschaffen hatten, so neu, daß die, die nach ihnen kamen, nicht Gelegenheit gehabt hätten, ihm gegenüber erneut nach Modernität zu rufen. Was immer eine Gruppe von Avantgardisten ins Werk setzte, war, so radikal sie sich auch geben mochten, letztlich doch nicht so modern, daß es eine nächste Generation nicht gleich wieder als veraltet hätte empfinden können, daß sie in ihm nicht wieder eine Überlieferung mit der Aura des Etablierten und Autoritativen hätte erblicken können, gegen die mit einem neuerlichen Brechen von Konventionen und Sprengen von Formen vorzugehen gewesen wäre. In eben diesem Sinne wandte sich zum Beispiel die Avantgarde von 1910, der Expressionismus, gegen Naturalismus, Symbolismus und Jugendstil, und wandte sich die Avantgarde von 1920, der Dadaismus, gegen den Expressionismus. Keine Avantgarde war offenbar so avanciert, daß nach ihr nicht eine neue Avantgarde hätte aufstehen können. Nichts Modernes schien je modern genug, schien sich auf Dauer als modern behaupten zu können.
Nun sind in der Moderne natürlich nicht nur Kunst und Literatur, sondern alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf solche Weise in Bewegung; überall heißt modern zu sein nach kurzer Zeit schon wieder etwas anderes. Die neue Mobilität der Kunst entspringt ja zunächst nichts anderem als dem Versuch, sich dadurch zu einer modernen Kunst zu gestalten, daß sie sich auf die Dynamik um sie herum einläßt und sie nach Kräften in sich hineinnimmt. Doch das allein reicht wohl noch nicht aus, um die dichte Abfolge immer neuer Avantgarden zu erklären. So rasch und durchgreifend verändern sich die Lebensverhältnisse auch in der Moderne nicht, daß eine Kunst, die up to date sein will, sich in jedem Jahrzehnt noch einmal neu zu erfinden hätte.
Der Grund für das Auftreten immer neuer Avantgarden dürfte nicht so sehr in den realen Prozessen des Wandels um die Kunst herum als vielmehr in dem Konzept von Modernisierung zu suchen sein, dem sie sich als moderne Kunst verschrieben hat. Es bedeutet nichts weniger, als daß jeder Künstler, der modern heißen will, seine Vorgänger an Modernität zu überbieten hat, daß er über das, was diese bei der Auseinandersetzung mit der modernen Welt bereits an Thematisierungen und formalen Möglichkeiten erarbeitet haben, wieder hinausgehen muß. Wenn jede künstlerische Leistung, die die Zeitgenossen überzeugt und beeindruckt, das Zeug dazu hat, eine Nachfolge zu begründen, also eine Tradition zu stiften, einen neuen „Bann der Überlieferung“ aufzurichten, dann kann eine Kunst, die auf Modernität aus ist, sich nur dadurch treu bleiben, daß sie jeden Ansatz zu einem solchen „Bann“ sogleich wieder zunichte macht. So kommt es, daß das, was die Werke eines Künstlers von denen seiner Vorgänger unterscheidet, daß die „Differenzqualität“ – ein Begriff des Russischen Formalismus, einer Schule der Literaturtheorie, die eng mit der russischen Avantgarde der zwanziger Jahre verbunden ist – in der Moderne weithin zu einem letzten Kriterium in allen Belangen der Kunst wird.
Hier zeigt sich, daß der moderne, der aus der Relation antik – modern herausgelöste, absolute Begriff von Modernität nur eine „Leerintention“ (Edmund Husserl) ist, die von sich aus keinen konkreten Inhalt mit sich führt, die immer wieder neu zu füllen ist und sich mit keiner Füllung auf Dauer verbindet, ja jeder einmal vorgenommenen Füllung alsbald wieder entledigt. Modern zu sein heißt nicht, ein für allemal für dieses und gegen jenes zu sein, sondern immer wieder für etwas anderes einzutreten.
Das haben bereits die ersten Modernen gesehen. Es ist ihnen nicht zuletzt über einem Streit bewußt geworden, der in der Münchner „Gesellschaft für modernes Leben“ entbrannte, kaum daß sie gegründet war. Er entzündete sich an einer Frage, die im katholischen München nicht ausbleiben konnte, an der Frage, ob man als Katholik modern und als Moderner katholisch sein könne, ob Modernität nicht Atheismus und Materialismus mit einbegreife. Das Ergebnis war die Einsicht, daß eine „Präcisierung der ,Moderne‘ (…) unvereinbar (…) mit dem Wesen derselben“ (MM 132–133) sei, daß also jede Festlegung des Begriffs „modern“ auf Vorstellungen wie Atheismus und Materialismus seiner Verfälschung gleichkäme. Das aber heißt nichts anderes, als daß er als eine Leerintention zu begreifen und zu handhaben sei.
In die gleiche Richtung zielt Michael Georg Conrad, wenn er erklärt, der Kampf der Modernen sei nicht als Eintreten für ein „Ideal“, ein „Prinzip“ oder ein „Dogma“ und „Einspinnen in eine Autorität“ zu verstehen, sondern als eine Bewegung „auf der Linie des aufsteigenden Lebens“. Unter dem Titel der Moderne soll es um eine Haltung gehen, die sich dem gegenüber, was das „aufsteigende Leben“, was Evolution und Fortschritt an Neuem bringen, nicht hinter irgendwelchen „Idealen“, „Prinzipien“, „Dogmen“ und „Autoritäten“ verschanzt, sondern ihm mit rückhaltloser Offenheit begegnet – offen und in Bewegung zu sein und zu bleiben wird zu einem obersten Wert.
Solche Feier der Offenheit läßt den Verdacht aufkommen, daß der Begriff der Modernität, auf den der programmatische Modernismus die Kunst verpflichtet, letztlich nichts anderes sei als der Hebel einer Modernisierungsdynamik, die sich zum Selbstzweck geworden ist, die allen Analysen und Programmen, die ihr angedient werden, immer schon voraus ist. Was immer sich die Zeitgenossen an Theorien in Sachen Moderne einfallen lassen – daß die Modernisierung weitergeht, steht vorab schon fest. Da kann es nicht ausbleiben, daß die Haltung der Offenheit in den Rang einer obersten Tugend aufsteigt; nur sie scheint davor bewahren zu können, daß man irgendwann unter die Räder der Modernisierungsmaschine gerät.
Offenheit ist freilich nicht die Lösung aller Probleme; sie schafft auch wieder neue. Die Bedeutung der Offenheit liegt ja darin, daß sie es erlaubt, sich auf Neues einzulassen, und sich einlassen heißt ergreifen und festhalten und nicht gleich wieder fahrenlassen, heißt also, sich zumindest zeitweise von der Offenheit verabschieden. Eine Leerintention wie der Begriff der Modernität kann nur dadurch zur Wirkung gelangen, daß sie mit bestimmten Inhalten wie Atheismus und Materialismus gefüllt wird und daß für die Worte, Taten und Werke, in denen diese Inhalte entfaltet werden, Geltung beansprucht wird. Gelten wollen heißt aber, der Modernisierungsdynamik nicht gleich wieder weichen wollen, ja ein solcher Geltungsanspruch konstituiert sich in der Moderne recht eigentlich in dem Widerstand, den er der Modernisierungsdynamik entgegensetzt. Von ihm aus gesehen erscheint das Modernisierungsgebot mithin als ein „Prinzip“, das ihm das Leben schwermacht, nimmt es die Züge eben der „Ideale“ und „Autoritäten“ an, mit denen eigentlich Schluß sein soll, begründet es ein neues „Dogma“: den Dogmatismus der Offenheit. Die Leerintention „modern“ und ihre jeweiligen Füllungen geraten notwendig in einen Konflikt, in dem sie einander wechselseitig als dogmatische Fixierung erfahren.
Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918)31 hat diesen Konflikt, den er den „Konflikt der modernen Kultur“ nennt, bereits 1918 einer eingehenden Analyse unterzogen. Dabei hat er ihn, wie bei einem Jünger Nietzsches und Verfechter des Vitalismus nicht anders zu erwarten – und das war Simmel in seinen letzten Jahren – auf einen Konflikt des Lebens zurückgeführt. Leben heißt schöpferisch sein; das Leben kann sich aber nur dadurch in seiner schöpferischen Lebendigkeit bewähren, daß es Formen schafft, Werke, die in eben dem Maße, in dem sie Gestalt annehmen, aufhören lebendig zu sein, die nämlich im Moment der Fertigstellung in eine feste Form auskristallisieren. Damit treten sie dem Leben, das es geschaffen hat, als etwas gegenüber, dem es gerade sein Eigenstes,
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Werner Jung: Georg Simmel zur Einführung. Hamburg 1990. – Matthias Junge: Georg Simmel kompakt. Bielefeld 2009.