Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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der Jugend“, und damit auf den „Instinkt der Natur“.

      Die zentrale These von Nietzsches „Kampfschrift“ ist der Gedanke, daß „die Übersättigung einer Zeit in Historie“, wie sie aus dem „Glauben an das Alter der Menschheit“, dem „Glauben, Spätling und Epigone zu sein“, erwachse, „dem Leben feindlich und gefährlich“ sei, weil sie die „Instinkte“ schwäche (NSW 1, 279). Die „Austreibung der Instinkte durch Historie“ (NSW 1, 280) hat für ihn gleich auf doppelte Weise schlimme Folgen: sie verhindert die Ausbildung „starker Persönlichkeiten“, und sie lähmt die produktiven Kräfte, die originelle, lebenskräftige kulturelle Leistungen entstehen lassen. So ruft er seinen Lesern zu:

      (…) vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein. Ihr habt genug zu ersinnen und zu erfinden, indem ihr auf (das) zukünftige Leben sinnt; aber fragt nicht bei der Geschichte an, dass sie euch das Wie? das Womit? zeige. (NSW 1, 295)

      In eben diesem Sinne erhebt er „Protest gegen die historische Jugenderziehung des modernen Menschen“, fordert er, „daß der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur im Dienst des erlernten Lebens die Historie gebrauche“ (NSW 1, 325).

      Davon sind für ihn seine deutschen Landsleute besonders weit entfernt, haben sie sich doch seit langem schon in den „Widerspruch zwischen Leben und Wissen“ ergeben und vergessen,

      dass die Cultur nur aus dem Leben hervorwachsen und hervorblühen kann; während sie bei den Deutschen wie eine papierne Blume aufgesteckt oder wie eine Ueberzuckerung übergegossen wird und deshalb immer lügnerisch und unfruchtbar bleiben muss. Die deutsche Jugenderziehung geht aber gerade von diesem falschen und unfruchtbaren Begriffe der Cultur aus: ihr Ziel, recht rein und hoch gedacht, ist gar nicht der freie Gebildete, sondern der Gelehrte, der wissenschaftliche Mensch(,) und zwar der möglichst früh nutzbare wissenschaftliche Mensch, der sich abseits von dem Leben stellt, um es recht deutlich zu erkennen; ihr Resultat, recht empirisch-gemein angeschaut, ist der historisch-aesthetische Bildungsphilister, der altkluge und neuweise Schwätzer über Staat, Kirche und Kunst, das Sensorium für tausenderlei Anempfindungen, der unersättliche Magen, der doch nicht weiss, was ein rechtschaffner Hunger und Durst ist. Dass eine Erziehung mit jenem Ziele und diesem Resultate eine widernatürliche ist, das fühlt nur der in ihr noch nicht fertig gewordene Mensch, das fühlt allein der Instinct der Jugend, weil sie noch den Instinct der Natur hat, der erst künstlich und gewaltsam durch jene Erziehung gebrochen wird. Wer aber diese Erziehung wiederum brechen will, der muss der Jugend zum Wort verhelfen (…). (NSW 1, 326)

      Die Grundzüge der „historischen Jugenderziehung“ sehen für Nietzsche wie folgt aus:

      (…) der junge Mensch hat mit einem Wissen um die Bildung, nicht einmal mit einem Wissen um das Leben, noch weniger mit dem Leben und Erleben selbst zu beginnen. Und zwar wird dieses Wissen um die Bildung als historisches Wissen dem Jüngling eingeflösst oder eingerührt; das heisst, sein Kopf wird mit einer ungeheuren Anzahl von Begriffen angefüllt, die aus der höchst mittelbaren Kenntniss vergangner Zeiten und Völker, nicht aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens abgezogen sind. Seine Begierde, selbst etwas zu erfahren und ein zusammenhängendes lebendiges System von eignen Erfahrungen in sich wachsen zu fühlen – eine solche Begierde wird betäubt und gleichsam trunken gemacht, nämlich durch die üppige Vorspiegelung, als ob es in wenig Jahren möglich sei, die höchsten und merkwürdigsten Erfahrungen alter Zeiten und gerade der grössten Zeiten in sich zu summiren. (NSW 1, 327)

      Kein Wunder, „daß der Deutsche keine Kultur hat“ – „er (kann) sie aufgrund seiner Erziehung gar nicht haben“ (NSW 1, 328).

      (…) wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigen und einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmal das Fundament einer Cultur, weil wir selbst davon nicht überzeugt sind, ein wahrhaftiges Leben in uns zu haben.

      Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen! – So ruft jeder Einzelne dieser ersten Generation, und alle Einzelnen werden sich unter einander an diesem Rufe erkennen. Wer wird ihnen dieses Leben schenken?

      Kein Gott und kein Mensch: nur ihre eigne Jugend; entfesselt diese und ihr werdet mit ihr das Leben befreit haben. (NSW 1, 328–329)

Jugend-, Lebens- und Nietzschekult

      Nietzsches Appell an die Jugend, mit den Traditionen und Konventionen der überkommenen Kultur zu brechen, auf nichts anderes zu setzen als auf die eigene „Jugend“ und das eigene „Leben“ und aus der „unmittelbaren Anschauung“ dieses Lebens „eine (neue) Kultur zu schaffen“, ist von der „ersten Generation“ der Modernen begierig aufgegriffen worden. Und sie hat nicht vergessen, wem sie den entscheidenden „Weckruf“ verdankte. Das zeigt etwa ein Leitartikel, den Michael Georg Conrad 1895 zum zehnjährigen Jubiläum der Zeitschrift „Die Gesellschaft“ schrieb. Conrad ist der erste bekennende Naturalist unter den deutschen Autoren und eine zentrale Figur der Münchner Moderne,28 und die „Gesellschaft“ ist das wichtigste Organ der frühen Moderne in Deutschland.29 Conrad spricht in seinem Jubiläumsartikel nicht nur auf die gleiche Weise von „Jugend“ und „Leben“ wie Nietzsche, er greift darüber hinaus auch zentrale Begriffe von dessen Philosophie auf, so zum Beispiel die Begriffe der „Morgenröte“ und der „ewigen Wiederkehr“.

      Unsere Zeitschrift hat ihr zehntes Jahr vollendet. Und sie fühlt sich jung, heiß, zukunftsfroh wie am ersten Tag (…).

      Mit uns ist die Jugend, mit uns ist die Kraft, mit uns Krieg und Sieg!

      Das ist unser Geheimnis, das Geheimnis aller Lebendigen und Zukünftigen: Wir wollen vom Leben leben, und darum müssen wir in der Zukunft leben.

      Und die Jugend ist mit uns nicht bloß als eigne, persönliche Verjüngung im nimmerrastenden Kampfe, sie ist mit uns in den Scharen jener, die, nach dem Gesetze der ewigen Wiederkehr, täglich neu dem Leben und seinen hehren Idealen geboren werden, in den Scharen jener Herrlichen und Fröhlichen, auf deren Scheitel zwar die Reflexe der großen Vergangenheit glänzen, in deren Augen aber der Morgenschimmer der noch größeren Zukunft leuchtet und Sonnenaufgänge sich ankündigen, wie in solcher Kraft und Schönheit die Menschheit sie noch nicht gesehen.

      „Es giebt noch viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben“, spricht Nietzsche.

      Mit ihm stehen wir auf der Linie des aufsteigenden Leben. Mit ihm haben wir uns in kein abstraktes Ideal, in kein papiernes Prinzip, in kein ertötendes Dogma, in keine heimlich mordende, vampyrartig blutaufsaugende Autorität eingesponnen und eingekapselt.30

      Es ist unübersehbar: Nietzsche ist für einen Modernen vom Schlage Conrads die Autorität schlechthin in Sachen Moderne, und doch will er ihn nicht als Autorität verstanden wissen – ein Widerspruch, in dem ein Problem zum Vorschein kommt, das die Moderne durch ihre gesamte Geschichte begleitet hat und das man schon früh gesehen und als „Konflikt der modernen Kultur“ beschrieben hat.

      2.3 Der „Konflikt der modernen Kultur“ und die Idee einer Postmoderne

Die innere Grenze des programmatischen Modernismus

      Den „Bann der Überlieferung“ abzuschütteln, um einem „Drang zur Neugestaltung“ Luft zu verschaffen, „Autoritäten“ den Kredit aufzukündigen, „Gewohnheiten“ und „Konventionen“ aufzubrechen, die Erwartung ästhetischen „Wohlbehagens“ nach Kräften zu düpieren, jedwede „Schmeichelschönheit“ als „Täuschung“ zu entlarven, „Formen zu sprengen“, um „Eigenwüchsiges“ an den Tag zu bringen, Neues, das einer unmittelbaren Berührung mit der „Erde“,

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<p>28</p>

Johannes Mahr: Michael Georg Conrad. Ein Gesellschaftskritiker des deutschen Naturalismus. Markbreit 1986. – Gerhard Stumpf: Michael Georg Conrad. Ideenwelt, Kunstprogrammatik, literarisches Werk. Frankfurt u. a. 1986.

<p>29</p>

Agnes Strieder: „Die Gesellschaft“. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeitschrift der frühen Naturalisten. Frankfurt u. a. 1985.

<p>30</p>

Michael Georg Conrad: Jugend! In: Hillebrand (Anm. 27). Bd. 1, S. 99.