Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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der in den Programmschriften der frühen Moderne nicht weniger häufig anzutreffen ist als die Begriffe der Modernität und der Jugend: in dem des Lebens. „Natur“ zu „singen“ heißt für Bierbaums Muse, „durch das bunte Heute (zu) schweifen“ und „des Lebens lachende Blumen (zu) greifen“, heißt „all-alles was lebt mit Herzblut (zu) tränken und aus in goldnen Schalen (zu) schenken“. Unter dem Titel „Natur“ geht es zunächst und vor allem um das „Leben“, und gelebt wird überall, wo Menschen sind, in den „großen Städten“ nicht weniger als in der „freien Natur“. Was das Leben ausmacht, läßt sich mithin überall aufsuchen, wo Menschen ihr Dasein fristen, auch in den „Kohlengruben“ und Maschinensälen der modernen Welt, in ihren Bahnhöfen und Straßenschluchten, Mietskasernen, „Gefängnissen“ und „Spitälern“. Ja im „Dampf und Kohlendunst“ der Moderne, unter den erschwerten Bedingungen einer mehr als fortgeschrittenen Zivilisation kommt man dem Geheimnis des Lebens womöglich eher nahe als „auf rein botanischem Gebiet“ (Wilhelm Busch), in den klinisch reinen Lebensräumen der „freien Natur“. In diesem Sinne wird der Begriff des Lebens, wird der Vitalismus zum Dreh- und Angelpunkt im Weltbild der frühen Moderne; davon wird noch ausführlich zu handeln sein.

Nietzsche als Autorität der Moderne

      Wer von den ersten Modernen beim Propagieren einer neuen Kunst und Literatur vor allem auf die Begriffe der Jugend und des Lebens setzte, der konnte sich dabei auf einen Philosophen berufen, der sich eben um 1890 anschickte, zu einer der maßgeblichen Autoritäten in allen Fragen von Kunst und Kultur zu werden: auf Friedrich Nietzsche.26 Wohlgemerkt: zu einer Autorität, zu einem Autor, den man beständig im Munde führt, weil man einer Position Gewicht verleihen und Diskussionen entscheiden kann, indem man sich auf ihn beruft – dem Institut der Autorität zu entkommen, ist offenbar nicht weniger schwierig, als die Mechanismen der Traditionsbildung außer kraft zu setzen. Schon Nietzsche hatte dazu aufgerufen, den „Bann der Überlieferung“ zu brechen und sich zu neuen Ufern aufzumachen, und schon er hatte dies im Namen des Lebens und der Jugend getan; daran ließ sich anknüpfen.

Nietzsches Begriff von Modernität

      Eines allerdings haben die Modernen nicht von Nietzsche übernehmen können: seinen Begriff von Modernität. Denn modern nennt er eben jenes Übermaß an historischer Bildung, jene Übermacht von Tradition und Konvention, die er überwunden sehen will, und nicht etwa eine Haltung, die mit alledem Schluß machen will. Er kennt noch nicht die Vorstellung von „absoluter Modernität“, um die das Denken der Modernen kreist; sein Begriff von Modernität ist noch ein relativer, einer, der in die Dichotomie antik – modern eingebunden ist, wie sie in der „Querelle des Anciens et des Modernes“ zum Einsatz kam. Das mag auch daran liegen, daß seine Schriften bereits ein bis zwei Jahrzehnte früher als die Programmschriften der Modernen, in den Jahren 1872–1889 entstanden sind, also bevor der Begriff der Modernität auch in der deutschen Szene die geschilderte Umdeutung erfuhr.

      Und so läßt sich seine Position durchaus noch als ein später Beitrag zur „Querelle“ verstehen, und zwar als Position eines „Ancien“, der den Schwächen der Moderne gegenüber an die Stärken der Antike erinnert. Anders als in der „Querelle“ üblich, bezieht er sich dabei freilich nicht auf die Phase in der Geschichte der Alten, die seit jeher als die Blüte- und Reifezeit ihrer Kunst und Kultur gilt, auf das „Goldene Zeitalter“ Athens, sondern auf das frühe, das dorische Griechentum, auf die Zeit, in der sich die Kultur der Griechen allererst selbst erschuf und noch weit davon entfernt war, sich historisch zu werden – mit einem Wort: auf die Jugendzeit des alten Griechenlands. Es ist sie, die er der Moderne als Gegenbild entgegenstellt, als Modell einer Kultur, die noch nichts von der unnatürlich-lebensfernen Künstelei weiß, an die sich die Moderne verloren hat, die wahrhaft kreativ, nämlich auf eine ursprüngliche, durch und durch originelle Weise schöpferisch ist, und damit zugleich wahrhaft lebendig. Solche historischen Reminiszenzen mochten sich die Modernen allenfalls gefallen lassen, ging es dabei doch nicht um das, was die Schöpferkraft der Griechen dem Abendland an Traditionen und Konventionen hinterlassen hatte, sondern um das Schöpferischsein selbst, und damit um das, was Kunst und Kultur jung und lebendig sein läßt.

Nietzsche und die Modernen

      Wie dem auch sei – jedenfalls wird die Lektüre Nietzsches um 1890 zu einem absoluten Muß für alle, die up to date sein wollen. Das war vorher anders; da war die Wirkung Nietzsches noch äußerst überschaubar. Erst der Aufbruch in die Moderne schafft den Resonanzraum, in dem seine Schriften zur Wirkung gelangen, wie es umgekehrt diese Schriften sind, die den Programmen der Modernen ihre Konsistenz und Durchschlagskraft verleihen – eine Allianz, von der beide Seiten gleichermaßen profitiert haben. Und so wird Nietzsche zum wichtigsten Stichwortgeber und zur großen Inspiration, um nicht zu sagen: zum entscheidenden Bildungserlebnis für die Generation, die sich aufmacht, eine neue Kunst und Literatur zu schaffen. Es lesen ihn die Naturalisten, die Symbolisten und die, die dem Symbolismus die Gestalt des Jugendstils geben, auch die nächste Generation von Modernen, auch die Expressionisten und die Dadaisten werden ihn lesen, und so wird es bleiben durch die gesamte Geschichte der Moderne hindurch, bis hin zu den Protagonisten der Postmoderne-Debatte, für die seine Philosophie nicht weniger wichtig gewesen ist als für die ersten Modernen.27 Nietzsche ist und bleibt der Autor, mit dessen Studium man sich auf die Höhe des modernen Bewußtseins bringt.

      Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinander dachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breit trat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles weitere war Exegese. Seine gefährliche stürmische blitzende Art, seine ruhelose Diktion, sein Sichversagen jeden Idylls und jeden allgemeinen Grundes, seine Aufstellung der Triebpsychologie, des Konstitutionellen als Motiv, der Physiologie als Dialektik – Erkenntnis als Affekt, die ganze Psychoanalyse, der ganze Existentialismus, alles dies ist seine Tat. Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche. (GBP 464)

      So Gottfried Benn in dem autobiographischen Essay „Doppelleben“ von 1950; er will also selbst den Existentialismus, der um 1950 das Neueste auf dem Markt der „Ismen“ ist, bereits bei Nietzsche finden.

Nietzsches Kritik am Historismus

      Was die erste Generation von Modernen bei Nietzsche sucht und findet, ist vor allem eines: eine philosophisch vertiefte Rechtfertigung des Bruchs mit der Überlieferung, die theoretische Sicherung ihres Versuchs, aus den soziokulturellen Mechanismen der Traditionsbildung auszubrechen. Nietzsche war wenn nicht der erste, so jedenfalls der schärfste Kritiker jenes Historismus, der im 19. Jahrhundert das kulturelle Leben beherrschte. Denn das 19. Jahrhundert setzte nicht nur auf den Fortschritt, sondern auch auf die Geschichte; wie es den Naturwissenschaften und der Technik mehr Raum gab als jedes Jahrhundert zuvor, so auch den historischen Wissenschaften und der Erinnerungskultur. In allen Bereichen der Kultur richtete es ständig den Blick zurück in die Geschichte, beschäftigte es die Menschen unausgesetzt mit den großen Zeiten, den Helden und Heldentaten der Vergangenheit, so wie in der Literatur mit der Dichtung und den Dichtern von Klassik und Romantik. Damit verband sich die Hoffnung, den Menschen in all der Bewegung, die durch den Fortschritt in die Welt gekommen war, einen Halt, eine Orientierung zu geben und die Dynamik der Modernisierung in geordnete Bahnen zu lenken – eine Rechnung, die nach Nietzsches Überzeugung nicht nur nicht aufgegangen war, sondern die verheerendsten Folgen gezeitigt hatte.

      Die schlimmste Folge des Historismus ist für ihn „die historische Jugenderziehung des modernen Menschen“; so zu lesen in der „unzeitgemäßen Betrachtung“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ aus dem Jahr 1874. In ihr erblickt er eine Form der Erziehung, die den jungen Menschen dermaßen mit historischem Wissen eindeckt, daß in ihm jede spontane Lebensregung erstickt wird, die zu nichts anderem gut ist, als aus ihm einen „historisch-ästhetischen Bildungsphilister“, einen angepaßten Spießer zu machen. So plädiert er am Ende seiner „Kampfschrift“ für einen Aufstand der Jugend, der Schluß macht mit der historischen Bildung und eine Kultur auf den Weg

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Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart Weimar 2000.

<p>27</p>

Bruno Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde. Tübingen 1978. – Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart Weimar 1996. – Hans Ester, Meinert Evers (Hrsg.): Zur Wirkung Nietzsches. Würzburg 2001.