Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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2.1.2 Kritik am Epigonentum
Daß sich die Generation, die in den achtziger, neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Bühne der Literatur betrat, einem solchen programmatischen Modernismus verschrieb, ist unschwer zu verstehen. Deutschland erlebte im letzten Drittel des Jahrhunderts, in den sogenannten Gründerjahren, einen Modernisierungsschub, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte; damals sprach man freilich noch nicht von Modernisierung, sondern von Fortschritt. Die Wissenschaften entwickelten sich auf eine Weise, die es ihnen erlaubte, mit einer ständig wachsenden Zahl von Entdeckungen und Erkenntnissen aufzuwarten und von ihnen aus an das Zeichnen eines neuen Welt- und Menschenbilds zu gehen. Zugleich schufen sie mit ihren Neuerungen die Grundlage für eine Ingenieurskunst, die auf breiter Front den Übergang zur technisch-industriellen Produktionsweise ins Werk setzte und damit nicht nur der Arbeitswelt, sondern sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein neues Gesicht gab. Ja es bildeten sich nun völlig neue Lebensräume heran, so zum Beispiel die Welt der modernen Großstadt. Und das Verkehrs- und Kommunikationswesen wuchs in eine Dimension hinein, die über den gewohnten Lebensräumen den Horizont der Globalisierung aufgehen ließ. Die ganze Welt schien eine andere zu werden, nur die Kunst schien so weitermachen zu wollen wie bisher, schien sich weiterhin in den Bahnen bewegen zu wollen, die ihr durch die Traditionen der abendländischen Kunst vorgezeichnet waren.
Zwar gab es seit den fünfziger Jahren schon eine Literatur, die sich zum Realismus bekannte, und das war eine Literatur, die sich bewußt in der Gegenwart, auf dem Boden der modernen Welt angesiedelt hatte. Doch hatte man deshalb nicht aufgehört, auf die Goethezeit zurückzublicken, ja in gewisser Weise war deren Literatur präsenter denn je, galt sie inzwischen doch allgemein als klassisch, und das heißt: als unübertreffliches, in alle Zukunft unentbehrliches Vorbild aller wahren Kunst. Das aber bedeutete, daß das literarische Leben auch zu Zeiten des Realismus noch immer im Bann der abendländischen Kunsttradition stand. Die Literatur der Goethezeit hatte sich ja wesentlich in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition entwickelt, hatte insbesondere noch immer auf den Dialog mit der Antike gesetzt; wer sich an ihr orientierte, blieb mithin ein Gefangener der Überlieferung.
Auch den Realisten selbst war es nicht wirklich gelungen, aus dem Bannkreis der Tradition herauszutreten, denn auch sie begriffen sich noch immer als „Epigonen“ der „Goetheschen Kunstperiode“ (Heine), als Nachgeborene, die den großen Vorgängern nicht das Wasser reichen könnten. Und das hatte zur Folge – so sahen es jedenfalls die Modernen – daß sie immerzu auf Kompromisse zwischen den Anforderungen der Gegenwart und der überkommenen Kunstübung ausgingen, Kompromisse, die, wie den Modernen schien, der Literatur nicht recht bekommen waren, faule Kompromisse, die es weder erlaubt hatten, der modernen Welt schonungslos ins Auge zu sehen, noch die Schönheit der alten Kunst wiederzubringen, so daß Wahrheit und Schönheit gleichermaßen auf der Strecke geblieben waren.
Wenn sich die Modernen der ersten Stunde auch in vielem, fast in allem uneins waren – denn die einen gingen auf einen Naturalismus, die anderen auf einen Symbolismus aus – in einem stimmten sie überein: mit dem „furchtbaren Epigonenschweif der Antike“ (M. G. Conrad) sollte ein- für allemal Schluß sein (MM 143). Und Epigonen waren für sie fast alle Autoren der älteren Generation, einschließlich der Realisten – nicht völlig zu Unrecht, insofern sich die Realisten, wie angedeutet, als Epigonen der „Goetheschen Kunstperiode“ gesehen hatten und diese Selbsteinschätzung in ihren Werken ihre Spuren hinterlassen hatte, doch auch nicht ganz zu Recht, da sie sich sehr viel entschiedener und gründlicher auf die modernen Verhältnisse eingelassen hatten, als die Modernen wahrhaben wollten. Entschlossene Revolutionäre pflegen sich freilich nicht lange mit derartigen Differenzierungen aufzuhalten.
Und richtend wird es euch entgegendröhnen:
„Verfluchte Schar von Gegenwartsverächtern!
Gewandelt seid ihr zwischen den Geschlechtern,
Den Vätern fremd und fremd den eignen Söhnen;
Ihr schwanktet kläglich zwischen den Verfechtern
Von neuen Farben, neuen eignen Tönen,
Von neuem Zweifeln, Suchen, Lachen, Stöhnen,
Und zwischen des Ererbten starren Wächtern.
In Unverstehen seid ihr hingegangen
Durch aller Stürme heilig großes Grauen,
Durch aller Farben glühend starkes Prangen
In taubem Hören und in blindem Schauen:
All Eines ist der Anfang und das Ende,
Und wo du stehst, dort ist die Zeitenwende!“ (HGW 1, 119)
Als Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) 1891, in dem gleichen Jahr, in dem Bierbaum mit seinem Prolog vor das Münchner Künstlerfest trat, dieses Gedicht schrieb, war er gerade einmal siebzehn Jahre alt – ein Wunderkind der modernen Literatur wie vor ihm etwa auch Rimbaud. Wie diesem erlaubte es ihm seine Jugend, besonders energisch mit der Vätergeneration abzurechnen. Wenn er deren Literatur als epigonal brandmarkt, so zielt damit auch er auf das Kompromißlerische ihrer Kunst, darauf, daß sie sich nicht zwischen dem „Ererbten“ und „eignen Tönen“ hätten entscheiden können und daß sie deshalb zwischen beiden Seiten auf eine Weise herumlaviert hätten, mit der sie weder der Kunst der Vergangenheit noch den Anforderungen der Gegenwart gerecht geworden wären, ja letztlich nicht mehr zum Ausdruck gebracht hätten, als daß sie beides nicht wirklich begriffen, beidem mit gleich großem „Unverstehen“ gegenübergestanden hätten.
Demgegenüber fordert er eine Kunst, die sich klarmacht, daß sie an einer „Zeitenwende“ steht, und sich zu einem Ort gestaltet, an dem die Konflikte dieser „Zeitenwende“ ausgetragen werden, an dem ebensowohl das von den „Stürmen“ der Zeit ausgelöste „heilig große Grauen“ wie das „glühend starke Prangen“ der „neuen Farben“, ebensowohl das Bedrohliche wie das Faszinierende der neuen Zeit zur Geltung kommen. Mit dem halbherzigen Lavieren zwischen Altem und Neuem soll ein für allemal Schluß sein.
Von diesem Standpunkt aus muß sich freilich auch Hofmannsthals Gedicht kritische Fragen gefallen lassen. Es bedient sich der Form des Sonetts, also einer überkommenen Form, ja der Form, die der Inbegriff des Traditionellen in der Lyrik ist. Und überdies bewegt es sich dabei innerhalb des thematischen Spektrums, das durch die Tradition vorgezeichnet ist; denn spätestens seit der Romantik galt das Sonett als eine Form, die besonders geeignet für die Gestaltung kunst- und literaturtheoretischer Inhalte sei, und um eine Standortbestimmung von Kunst und Literatur geht es