Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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Benns Gedicht auf das Jahr 1886 kommt offensichtlich aus einer Welt, die mit dem Lyrikverständnis des 19. Jahrhunderts gebrochen hat. Hier werden keine Verse gedrechselt, wird nicht vor sich hin gereimt und nicht gesungen, wie der Vogel singt. Zwar hat sich Benn wie manch anderer moderne Lyriker durchaus darauf verstanden, die Sirenenklänge einer Wortmusik in Szene zu setzen, wie Vers und Reim überhaupt in der Lyrik der Moderne einen Stellenwert behalten, der nicht zu unterschätzen ist. Aber sie bezeichnen hier nur noch eine Möglichkeit unter anderen. Neben ihnen stehen Formen, deren sachlich nüchterner Sprachgestus, deren „Lakonismus“ dem Gefühls- und Stimmungston der liedhaften Lyrik diametral entgegengesetzt ist, und sie bilden den Hintergrund, vor dem sich Vers und Reim zu bewähren haben. Wenn an Benns Gedicht überhaupt noch ein subjektiv-erlebnishaftes, individuell-persönliches Moment mit beteiligt sein sollte, dann drängt es sich jedenfalls nicht in den Vordergrund, gibt es sich nicht auf den ersten Blick schon zu erkennen.
So fällt bei der Lektüre von Benns „1886“ denn auch besonders auf, daß in ihm kein einziges Mal „ich“ gesagt wird, und dies obwohl hier ein Autor von seinem Geburtsjahr spricht, von dem Jahr, in dem sein Ich das Licht der Welt erblickte. Die Frage: wo komme ich her? und die stillschweigend mit ihr verbundene zweite Frage: wo bin ich hingeraten? werden nicht von persönlichen Erlebnissen und subjektiven Empfindungen und Stimmungen aus aufgerollt; diese bleiben unausgesprochen und kommen im Text allenfalls indirekt zum Ausdruck. Statt dessen werden allerlei Begebnisse der großen und kleinen Geschichte zusammengetragen, Objektiv-Faktisches aus Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Verkehrswesen, politischem und kulturellem Leben, einschließlich der zeitgenössischen Literatur. Es geht um Entwicklungen und Begebenheiten, die nichts mit der Person dessen zu tun haben, der da geboren worden ist, jedenfalls nicht mehr als mit der jedes anderen, der seinerzeit das Licht der Welt erblickte.
Einzig gegen Ende des Gedichts findet sich ein indirekter Hinweis auf die Person dessen, der da spricht: 1886 ist das „Geburtsjahr gewisser Expressionisten“; das schließt den als Expressionisten bekanntgewordenen Benn mit ein. Aber dessen individuelles Ich tritt auch hier nicht aus der Phalanx derer hervor, die die Erfahrungen seiner Generation teilen, die alle gleichermaßen unter Verhältnissen herangewachsen sind, die den einen zum Vertreter einer inzwischen verbotenen, in der „inneren Emigration“ verschwundenen expressionistischen Literatur hat werden lassen, den anderen, Wilhelm Furtwängler, zum Staatsdirigenten des Dritten Reichs, einen dritten, den expressionistischen Maler Oskar Kokoschka, zum Emigranten und einen vierten, den Generalfeldmarschall von W., zu einem großen Kriegsherrn, den freilich bereits der Heldentod ereilt hat.
Und das alles wird in einer Sprache ausgebreitet, die keineswegs auf intuitive, spontane Weise dem Seelenleben des Autors entströmt, die weithin überhaupt nicht dessen individuelles Idiom repräsentiert und die insofern auch nicht unmittelbar von dessen innerer Befindlichkeit Zeugnis ablegen kann. Vielmehr bedient sich Benn der unpersönlichen Sprache, in der seinerzeit in den Zeitungen von alledem berichtet worden ist, in der es sich in die öffentlichen Diskurse hinein objektiviert hat. Daß er in der Tat auf die Zeitungssprache zurückgreift, wird in den Zeilen besonders deutlich, wo er die „Rubrik: der Leser hat das Wort“ ins Spiel bringt. Die Sprache des Gedichts ist weithin vorgeprägte Sprache, Sprache aus zweiter Hand. Das Ich des Autors bringt sich vor allem in der Auswahl und Zusammenstellung der Zeugnisse zur Geltung, in der Art und Weise, wie er – um eine Wendung von Benn selbst aufzunehmen – „zivilisatorische Realitäten“ „auf Spalier zieht“, wie er das zusammengetragene Material „montiert“ (GBE 405).
Solchen Montagegedichten,7 die ohne das Wort „ich“ auskommen, begegnen wir erst in der Moderne; sie sind im 19. Jahrhundert noch völlig undenkbar. Das Gedicht des 19. Jahrhunderts versucht überall und immer, in allen Belangen ich zu sagen.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.8
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.9
Das 19. Jahrhundert hat, wie sich bei Heine besonders deutlich zeigt, kein Wort so oft und mit so gläubiger Inbrunst ausgesprochen wie das Wort „ich“; ich sagen zu dürfen, ist seine größte Lust, ich sagen zu müssen, seine größte Last. Darin vor allem dürften die Erfolge gründen, die im 19. Jahrhundert einer Lyrik zuteil werden, die sich als liedhafte Lyrik zum Medium einer subjektiv-erlebnishaften Ich-Aussprache gestaltet hat. Daß das Ich hier so große Bedeutung erlangt, ist Ausdruck der Individualisierung, wie sie untrennbar mit dem Prozeß der Modernisierung verbunden ist, jener Aufwertung alles Individuellen, Persönlichen, Subjektiven, die vor allem von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorangetrieben worden ist und der gerade auch die Literatur Raum zu geben sucht, seitdem sie sich als eine autonome Kunst versteht.
Die Lust und Last des Ich-Sagens erlebt im letzten Drittel des Jahrhunderts bei dem Philosophen, der zum wichtigsten Mentor der frühen Moderne werden sollte, bei Friedrich Nietzsche, einen Höhepunkt, der sich kaum mehr überbieten läßt. Was diesen Denker umtreibt, läßt sich seinen Texten bereits auf den ersten Blick ansehen; offensichtlich kommt es ihm darauf an, möglichst viele Sätze zu bilden, in denen an möglichst vielen Stellen ich gesagt wird. Nietzsches letzte Schrift „Ecce homo“ (1888) dürfte von allen Werken der Weltliteratur dasjenige sein, dessen Text die größte Ich-Dichte aufweist. In allen Belangen soll dem Ich Geltung verschafft werden, nicht nur in der Kunst, die als autonome Kunst dazu prädestiniert ist, sondern gerade auch in den Bereichen, in denen ihm in der Regel eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird, und hier wiederum besonders in den Fragen der Erkenntnis und der Moral. Eben darin dürfte einer der Gründe für das ungeheure Echo zu sehen sein, das Nietzsches Schriften an der Schwelle zur Moderne hatten; wer Nietzsche las, der durfte mit ihm endlich einmal hemmungslos ich sagen.
Am Ende des 19. Jahrhunderts konnte das nur als ein Befreiungsschlag erlebt werden, denn es war inzwischen immer schwieriger geworden, unbekümmert ich zu sagen. Nicht als hätte man früher im 19. Jahrhundert nicht auch schon seine Probleme damit gehabt. Das Ich ist sich in eben dem Moment zum Problem geworden, in dem das authentische Selbstsein zum Maß aller
6
Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Reinbek 1956. – Dieter Lamping: Moderne Lyrik. Göttingen 1991.
7
Reinhold Grimm: Montierte Lyrik. In: GRM 8 (1958), S. 178–192. – Johannes Ullmaier: Yvan Golls Gedicht „Paris brennt“. Zur Bedeutung von Collage, Montage und Simultanismus als Gestaltungsverfahren der Avantgarde. Tübingen 1995.
8
Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Klaus Briegleb. München Wien 1976. Bd. 1, S. 107.
9
Ebenda. Bd. 7, S. 432.