Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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auf die moderne Öffentlichkeit angewiesen; sie kann sich nur dort entfalten, wo sie jene Form des öffentlichen Lebens vorfindet, die zu einem demokratisch verfaßten, zumindest von dem Streben nach Demokratie durchpulsten Gemeinwesen dazugehört, jene mediale Öffentlichkeit, die an allem interessiert ist, worüber sich kontrovers diskutieren läßt, die von immer neuen Aktualitäten, immer neuen Events lebt, um nicht zu sagen: von Provokation und Skandal. Das zeigt sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Hitler-Diktatur besonders deutlich. In eben dem Maße, in dem die westdeutsche Gesellschaft zu demokratischen Verhältnissen zurückfindet und sich ein entsprechendes öffentliches Leben gibt, können Kunst und Literatur zu modernen Formen zurückkehren, können sich erneut Avantgarden heranbilden, kann das Spiel der künstlerischen Revolutionen und Experimente noch einmal von vorn beginnen – die Zweite Moderne. Im Osten Deutschlands hingegen, in der DDR, bleiben die Möglichkeiten einer modernen Kunst und Literatur wegen der Staatsdoktrin des „Sozialistischen Realismus“ und einer auf diese Doktrin eingeschworenen Zensur lange Zeit eng begrenzt.

Der Beitrag der Literatur zum Verständnis der Moderne

      So sollen denn im letzten Band dieser Einführung in die Geschichte der deutschen Literatur Grundlagen, Grundfragen und Grundformen der modernen Literatur erkundet werden, soll gefragt werden, was die sozial- und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen waren, unter denen sie entstanden ist, was die weltanschaulichen Diskussionen, die Fragen von Welt- und Menschenbild, mit denen sie konfrontiert war, und was die formalen Lösungen, die sie dafür gefunden hat. Der Kernbereich dessen soll ausgeleuchtet werden, was die moderne Literatur umtreibt und was ihre Eigenart begründet. Damit sollen nicht nur Wege zum Verständnis moderner Texte eröffnet werden, sondern auch Wege zum Verständnis der modernen Welt. Beides soll gemeinsam in Angriff genommen werden, und kann wohl auch nur gemeinsam geschehen.

      Denn wer sich mit Literatur beschäftigt, der bekommt es nie mit Literatur allein zu tun, der ist dabei immer auch mit dem konfrontiert, wovon sie redet. Und das ist ja auch der Grund dafür, daß er sie sucht; er will sich von ihr etwas sagen lassen. Wer sich mit moderner Literatur auseinandersetzt, der geht dabei in der Regel nicht nur auf ein selbstgenügsames ästhetisches Erleben aus, der will zugleich in Erfahrung bringen, was sie ihm über die moderne Welt und über sein Leben in dieser modernen Welt zu sagen hat. Insofern kann man sich nicht auf die moderne Literatur einlassen, ohne zugleich in ein Nachdenken über die moderne Welt einzutreten.

      Auf den ersten Blick könnte man meinen, nichts sei leichter als dies. Denn der Weg in die Moderne ist mit Theorien der Moderne gepflastert. Die verschiedensten Wissenschaften, etwa die Philosophie, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Politikwissenschaft, haben sich unausgesetzt an Analysen der modernen Welt versucht, so daß man glauben könnte, der Literarhistoriker bräuchte hier nur zuzugreifen. Aber eine Literaturwissenschaft, die sich selbst und ihren Gegenstand ernst nimmt, wird ihre Begriffe von Moderne nicht einfach von anderen Wissenschaften übernehmen wollen, so wichtig ihr der Dialog mit diesen auch sein mag; sie wird versuchen, ihre Vorstellung von den modernen Verhältnissen bei ihrer Auseinandersetzung mit der Literatur auf eigene Hand zu entwickeln.

      Denn die Literatur ernst zu nehmen heißt, ihr zuzugestehen, daß sie etwas Eigenes, Eigenständiges zum Bild der Welt beizutragen habe, etwas, das durch nichts anderes, durch keine andere kulturelle Aktivität und insbesondere durch keine Wissenschaft zu ersetzen sei. Wer die moderne Literatur ernst nimmt, der wird davon ausgehen, daß jede Theorie der Moderne unvollständig bleiben, ja hohl und schief werden müßte, die den Beitrag der Literatur zum Bild der modernen Verhältnisse nicht zu würdigen verstünde. Dieser Beitrag gründet bekanntlich vor allem darin, daß sie bei allem, was sie zur Darstellung bringt, zugleich zu erkennen gibt, „wie den Menschen zumute ist“ (Goethe); daß sie stets mit bezeugt, wie die Menschen die Gegebenheiten, von denen die Rede ist, erleben, wie sie sie empfinden, bewerten und beurteilen, und daß sie dem auf eine Weise Geltung verschafft, die keiner anderen Art des Redens, keiner anderen kulturellen Aktivität und schon gar keiner Wissenschaft gegeben ist.

      Eben um die Erkundung dessen, was die Literatur aufgrund ihrer besonderen Fühlung mit dem Zumutesein des Menschen aus Eigenem zum Bild der modernen Welt und zum Selbstverständnis des modernen Menschen beizutragen hat, soll es im folgenden gehen. Deshalb kann es hier nicht genügen, auf bereits durch andere Wissenschaften ausgearbeitete Theorien der Moderne als fertige, vorab feststehende Theorien zurückzugreifen und von ihnen aus an die Darstellung der modernen Literatur zu gehen. Vielmehr soll versucht werden, die sozial-, kultur- und geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die bei der Annäherung an sie mit zu bedenken sind, so weit wie möglich in der Auseinandersetzung mit der Literatur selbst zu entwickeln, als etwas, dessen Konturen auch von ihr aus und gerade von ihr aus kenntlich werden. Andernfalls hätte sich das Unternehmen vorab bereits um seinen möglichen Ertrag gebracht. Denn wozu sollte man noch die Literatur befragen, wenn schon anderweit festgestellt wäre, was Sache ist.

Die Literatur als kritischer Zeuge der Modernisierung

      Und zu einem solchen Vorgehen gibt die moderne Literatur selbst allen Anlaß. Für sie ist nämlich keineswegs schon ausgemacht, was die Moderne ist. Wie die Literatur zu keiner Zeit nur eine Widerspiegelung von geschichtlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Diskursen gewesen ist, wie sie immer schon mehr und anderes war als nur ein Dokument, ein historisches Zeugnis neben anderen, nämlich ein kritischer Zeuge, so auch die moderne Literatur. Mitten in der modernen Welt stehend und sich nach Kräften auf sie einlassend und ihrer Dynamik aussetzend, hat sie sich doch an nichts anderem versucht als daran, diese moderne Welt auf Distanz zu stellen und einem kritischen Blick zu unterwerfen. Die moderne Literatur läßt sich geradezu als ein einziger großer kritischer Kommentar des Prozesses der Modernisierung lesen. Dieser kritischen Zeugenschaft gilt es Rechnung zu tragen.

      Die moderne Literatur ist in der modernen Welt zugleich zu Hause und fremd. Sie will nirgendwo anders sein als in ihr und kann doch in ihr nicht aufgehen. Insofern hat sie denen, die Nietzsche „Bildungsphilister“ nennt, also denen, die sich gegenüber der Dynamik der Moderne in einer rückwärtsgewandten Bildungswelt verschanzen, ebensowenig zu bieten wie dem Widerpart des „Bildungsphilisters“, dem „Modernisierungsphilister“, dem die Teilhabe an der Modernisierung immer schon verbürgt, unterwegs zur besten aller Welten zu sein, und der deshalb um jeden Preis modern sein will. Mit beiden gleichermaßen steht die moderne Literatur auf Kriegsfuß.

      Und wie sollte es anders sein, da sich die Literatur der modernen Welt mit Mitteln der Kunst nähert. Denn die Kunst wendet sich der Welt auf eine Weise zu, für die Alexander Gottlieb Baumgarten, der Vater der modernen Ästhetik, schon im 18. Jahrhundert den Begriff der ästhetischen Thaumaturgie gefunden hat. Sie gründet in einer Art Handwerk des Staunens (griechisch: thaumazein); nichts ist ihr selbstverständlich, alles wird ihr zum Gegenstand der Verwunderung, auch das und gerade das, worüber ihre jeweiligen Zeitgenossen als etwas Bekanntes und Vertrautes hinweggehen. Insofern fühlt sich die Literatur in der Welt, in der sie sich vorfindet, immer mehr oder weniger fremd, hat ihre Arbeit an der Darstellung von Welt immer etwas mit „Verfremdung“ zu tun, auch dort, wo sie sich nicht geradezu auf den Begriff der Verfremdung beruft, wie wir das etwa von Bertolt Brecht her kennen. Statt von Thaumaturgie und Verfremdung könnte man mit Robert Musil auch vom „Möglichkeitssinn“ der Literatur sprechen: was immer ihr an Wirklichkeit in den Blick kommt, nimmt sie in dem Gedanken wahr, daß alles auch ganz anders sein könnte.

Zur Konzeption dieser Einführung

      Das Bild der modernen Welt, das zugleich der Ausgangs- und der Zielpunkt dieser Einführung ist, soll mithin vor allem von der Literatur aus entwickelt werden, als einem kritischen Zeugen der Prozesse, in denen sich diese Welt herangebildet hat. So soll denn die Literatur hier so oft wie möglich selbst zu Wort kommen. Der Leser soll die erörterten Fragen von literarischen Texten aus kennenlernen, er soll sich dabei in die Formensprachen der Moderne einlesen und auf eigene Rechnung ein Bild von ihnen machen können. Das setzt der Systematik der Darstellung natürlich gewisse Grenzen. Die Entwicklung von Problemzusammenhängen wird immer wieder für das Vorstellen und Kommentieren von Textbeispielen zu unterbrechen sein, und da sich literarische Texte nur

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