Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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Problemfelder führen – die „Polythematik“ der literarischen Rede – wird sich das, was zu ihrer Erläuterung zu sagen ist, kaum einmal ganz in systematische Überlegungen einbinden lassen.

      Daß der Leser so oft wie möglich der Literatur selbst begegnen soll, wird überdies weder für einen schulgerechten Abriß der literaturgeschichtlichen Entwicklung noch für einen Überblick über die einschlägige Forschung genug Raum lassen. Am Ende wird der Leser mithin manche der von der Wissenschaft besonders intensiv diskutierten Fragen, manchen prominenten Autor und etliche der inzwischen als klassisch geltenden Werke zu vermissen haben. Es steht freilich zu hoffen, daß er in eben dem Maße, in dem er sich an den ausgewählten Texten auf exemplarische Weise mit Grundlagen, Grundfragen und Grundformen der modernen Literatur bekanntmachen kann, auch mit den literarhistorischen Fragen, den Autoren und Werken besser zurechtkommen wird, die hier nicht eigens verhandelt werden.

Gottfried Benn: „1886“

      So wollen wir uns denn auch für die erste Annäherung an die Moderne von einem literarischen Text an die Hand nehmen lassen. Um die Wende von 1944 zu 1945 schreibt Gottfried Benn (1886–1956)1 ein Gedicht auf sein Geburtsjahr 1886, in dem vom Ende des Entwicklungsbogens aus, der oben skizziert worden ist, der Blick auf die Zeit gerichtet wird, in der alles begann. Es ist ein Blick, der aus dem Staunen darüber lebt, wie sehr sich die Welt in diesen sechs Jahrzehnten verändert hat, im Guten wie im Bösen. Und die Jahre 1944 und 1945 sind böse Jahre, vielleicht die bösesten, die die Moderne bis dahin gesehen hat. Die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs und seines Weltkriegs läuft auf Hochtouren, die ganze Welt scheint in Trümmer zu sinken. Von hier aus stellen sich die Verhältnisse des Jahres 1886 als „gute alte Zeit“ dar, und seine Literatur als Ausdruck eines Bewußtseins von geradezu atemberaubender Harmlosigkeit. Unter der Oberfläche ist das Neue freilich schon da, jenes Neue, das eine ganz andere Literatur erfordern wird als die bis dahin gepflegte, und es drängt mit Macht ans Licht.

      1.2 An der Schwelle zur Moderne – Gottfried Benn: „1886“

1886

      Ostern am spätesten Termin,

      an der Elbe blühte schon der Flieder,

      dafür Anfang Dezember ein so unerhörter Schneefall,

      dass der gesamte Bahnverkehr

      in Nord- und Mitteldeutschland

      für Wochen zum Erliegen kam.

      Paul Heyse veröffentlicht eine einaktige Tragödie.

      Es ist Hochzeitsabend, die junge Frau entdeckt,

      dass ihr Mann einmal ihre Mutter geliebt hat,

      alle längst tot, immerhin

      von ihrer Tante, die Mutterstelle vertrat,

      hat sie ein Morphiumfläschchen:

      „störe das sanfte Mittel nicht“,

      sie sinkt zurück, hascht nach seiner Hand,

      Theodor (düster, aufschreiend):

      „Lydia! Mein Weib! Nimm mich mit Dir“! –

      Titel: „Zwischen Lipp’ und Kelchesrand.“

      England erobert Mandelai,

      eröffnet das weite Tal des Irawaday dem Welthandel;

      Madagaskar kommt an Frankreich;

      Russland vertreibt den Fürsten Alexander

      aus Bulgarien.

      Der Deutsche Radfahrbund

      zählt 1500 Mitglieder.

      Güssfeld besteigt zum ersten Mal

      den Montblanc

      über den Grand Mulet.

      Die Barsois aus dem Perchinozwinger

      im Gouvernement Tula,

      die mit der besonders tiefbefahnten Brust,

      die Wolfsjäger,

      erscheinen auf der Berliner Hundeausstellung,

      Asmodey erhält die Goldene Medaille.

      Die Registertonne wird einheitlich

      auf 2,8 cbm Raumgehalt festgesetzt;

      Übergang des Raddampfers zum Schraubendampfer;

      Rückgang der Holzschiffe;

      über das chinesische Kauffahrteiwesen

      ist statistisch nichts bekannt;

      Norddeutscher Lloyd: 38 Schiffe, 63.000 t,

      Hamburg-Amerika: 19 Schiffe, 34.200 t,

      Hamburg-Süd: 9 Schiffe, 13.500 t.

      Turgenjew in Baden-Baden

      besucht täglich die Schwestern Viardot,

      unvergessliche Abende,

      sein Lieblingslied, das selten gehörte:

      „wenn meine Grillen schwirren“

      (Schubert),

      oft lesen sie Scheffel’s Ekkehard.

      Es werden entdeckt:

      der flügellose Vogel Kiwi-kiwi in Neuseeland,

      der augenlose Molch in der Krainer Tropfsteinklamm,

      ein blinder Fisch in der Mammuthhöhle von Kentucky.

      Beobachtet werden:

      Schwinden des Haarkleides (Wale, Delphine),

      Weisslichwerden der Haut (Schnecken, Köcherfliegen),

      Panzerrückbildung (Krebse, Insekten) –

      Entwicklungsfragen,

      Befruchtungsstudien,

      Naturgeheimnis,

      nachgestammelt.

      Kampf gegen Fremdwörter,

      Luna, Cephir, Chrysalide,

      1088 Wörter aus dem Faust

      sollen verdeutscht werden.

      Agitation der Handlungsgehilfen

      für Schliessung der Geschäfte an den Sonntagnachmittagen,

      sozialdemokratische Stimmen

      bei der Wahl in Berlin: 68 535.

      Das Tiergartenviertel ist freisinnig,

      Singer hält seine erste

      Kandidatenrede.

      13. Auflage von Brockhaus’

      Konversationslexikon.

      Die Zeitungen beklagen die Aufführung

      von Tolstoi’s „Macht der Finsternis“,

      dagegen ist Blumenthal’s „Ein Tropfen Gift“

      eines langen Nachklangs von Wohllaut sicher;

      „Über dem Haupt des Grafen Albrecht Vahlberg,

      der eine geachtete Stellung in der hauptstädtischen Gesellschaft

      einnimmt,

      schwebt eine dunkle Wolke“,

      Zola, Ibsen, Hauptmann sind unerfreulich,

      Salambo verfehlt,

      Liszt Kosmopolit,

      und nun kommt die Rubrik

      „Der Leser hat das Wort“,

      er will etwas wissen

      über Wadenkrämpfe

      und Fremdkörperentfernung.

      Es taucht auf:

      Pithekanthropos,

      Javarudimente, –

      die Vorstufen.

      Es stirbt aus:

      der

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<p>1</p>

Wolfgang Emmerich: Gottfried Benn. Reinbek 2006.