Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems страница 9
Vor allem erkennen wir in dem Bild, das Benn von der Welt des Jahres 1886 zeichnet, das Moment wieder, das bis auf den heutigen Tag und heute mehr denn je die Struktur der Gesellschaft bestimmt: die institutionelle Differenzierung, das Auseinanderfallen der Gesellschaft in Lebensbereiche, die sich um ein bestimmtes Spezialinteresse herum organisieren und gegen alle anderen Interessen abschotten. Eben in diesem Nebeneinander der Lebensbereiche, wie sie dem Individuum im Laufe seines Lebens, ja an jedem einzelnen Tag ein ständiges Umsteigen von einem zum anderen abverlangt, haben die Verfechter einer neuen Literatur eine zentrale Herausforderung der Kunst in der Moderne erkennen wollen. Ihnen geht es im Grunde überall und immer um das „große Ganze“, um den großen Zusammenhang jenseits der Spezialinteressen und Sonderwelten. Und wo es ihnen nicht gelingt, sich ein Bild von ihm zu machen, da versuchen sie wenigstens, die Frage nach dem „großen Ganzen“ offenzuhalten, so schwer es ihnen die modernen Verhältnisse auch machen mögen. Auch Benn versucht sich in „1886“ letztlich an nichts anderem als an einem Gesamtbild der modernen Welt, ein Versuch, dem die historische Lage der Jahre 1944/45 die Perspektive vorgibt.
Da ist auf der einen Seite der Fortschritt, ist die Modernisierungsmaschine, die sich wie eine gewaltige Dampfwalze immer weiter voranschiebt. Das zivilisatorische Geschäft steht in Blüte, die theoretische Durchdringung und praktische Unterwerfung der Natur schreitet voran, die Menschheit dehnt ihren Aktionsradius immer weiter aus und weiß ihre Belange immer effizienter zu organisieren. Auf der anderen Seite will über all dem Fortschritt aber die „Macht der Finsternis“ durchaus nicht weichen, ja sie scheint an dem zivilisatorischen Geschäft selbst mit beteiligt, auf eine Weise, die sich immer weniger verbergen läßt, je moderner die Verhältnisse werden. Das deutet sich zunächst in dem an, was von der Politik der europäischen Kolonialmächte berichtet wird, einer Politik, deren Anspruch es ist, die moderne Zivilisation in die Welt zu tragen, und die in Wahrheit den Globus mit Krieg und Ausbeutung überzieht, und es wird vollends am Schluß des Gedichts offenbar: „Kapitalverdoppelung bei Schneider-Creuzot, Krupp, Putiloff“. Eine Entwicklung ist im Gange, deren innerste Triebkraft nicht die Menschheitsbeglückung ist, wie es der Anspruch der Moderne ist, sondern die kriegerische Gewalt und die auf eine große Explosion zusteuert.
Davon wollen die Menschen freilich nichts wissen, und an diesem ihrem Nicht-wissen-Wollen ist die Literatur der Zeit keineswegs unbeteiligt, jedenfalls nicht die vom Kulturbetrieb favorisierte Literatur. Im Gegenteil: sie beschäftigt die Menschen mit Scheinproblemen, versorgt sie mit einem „schönen Schein“, der ihnen dabei hilft, sich über die wahren Probleme hinwegzutäuschen und sich einem naiven Glauben an den Fortschritt hinzugeben. Allerdings melden sich 1886 schon Stimmen zu Wort, die aus dem allgemeinen Konzert des „Wohlklangs“ herausfallen, kritische Stimmen wie die von Tolstoj, von Zola, Ibsen und Hauptmann und von Flaubert. Aus der Perspektive der Jahre 1944/45 ist klar: so „unerfreulich“ ihre Werke auch für die Zeitgenossen gewesen sein mögen – es waren sie, denen die Zukunft der Literatur gehörte. Und zugleich ist klar: ihre Erfolge bei späteren Generationen haben den Lauf der Dinge nicht aufhalten, haben Katastrophen wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht verhindern können.
Soweit Benn und sein Gedicht auf das Jahr 1886. Wie immer man aus heutiger Sicht die Diagnose bewerten mag, die er hier der modernen Welt stellt – es ist eine Diagnose, die von den meisten der Autoren geteilt wurde, die die moderne Literatur auf den Weg brachten. So schätzten sie die Verhältnisse ein, unter denen sie antraten, so die Herausforderungen, mit denen sie es aufzunehmen hätten. Insbesondere waren sie wie Benn der Überzeugung, daß die seinerzeit herrschende Kunst und Literatur versucht hätte, einen „schönen Schein“ aufrechtzuerhalten, der durchaus an den Realitäten der Moderne vorbeigegangen und nichts anderes gewesen wäre als eine einzige große Lüge. Und so machten sie sich auf, um mit dieser Kunst und Literatur zu brechen und etwas Neues, von Grund auf anderes zu versuchen, etwas, das der modernen Welt eher gerecht würde und den Menschen die Augen für sie öffnen könnte.
2 Aufbruch in die Moderne
2.1 Programmatischer Modernismus
2.1.1 Der Begriff „modern“
Grüß Gott und Willkommen! Das Herz zum Gruße
Tut weit euch auf die Sommermuse;
Ja, seht mich nur an, gelehrte Herrn!
Ihr möchtet wohl was Klassisches gern,
Allein, vom Scheitel bis zum Fuße
Bin ich modern, modern, modern!
Ohne Kothurn und Tunika,
Steh ich, ein Mädel von heute, da
Und laß mir mein Heute, mein Heute nicht nehmen,
Will mich in gar nichts Vergang’nes bequemen.
Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,
Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.
Und ist auch ein Schimpfen
Und Naserümpfen:
Wo ist denn die große
Hellenische Pose,
Das Majestätische,
Donnerpathetische,
Und was man noch sonsten das Klassische nennt:
Das herzheiße Heute ist mein Element.
Drum, was auch die Alten in Ehren gesungen,
Ich liebe die wagemutigen Jungen,
Die durch das bunte Heute schweifen,
Des Lebens lachende Blumen greifen
Und aus des Heute drohenden Schlünden
Sich Stufen zu neuer Helle gründen.
Sie lieb ich ganz und bin ihnen hold,
Zeig ihnen im Heute poetisches Gold:
In den Düsternissen
Sozialer Not,
Wo die Liebe zerrissen
Der Schrei nach Brot,
Wo ein Kämpfen und Kriegen ohn Unterlaß,
Wo die Menschen spaltet ein grimmiger Haß,
Wo allem Herzlichen, allem Schönen
Verzweifelt entgegengellt spöttisches Höhnen:
Da will ich dem Schönen das Wahre versöhnen.
Im Wahren die Schönheit! so finden wir sie:
Die uralt neue, die Poesie.
Mit hellen Augen
Die Schönheit saugen,
An der keine Lüge und Schminke klebt,
All-alles, was lebt,
Mit Herzblut tränken
Und aus in goldenen Schalen schenken.
Das ist es, wonach das Junge strebt,
Das sich enthoben den wurmigen Bänken
Der Formelnschule und Konvention,
Die aller Ehrlichkeit, allem Mute,
Die allem liebsehnsüchtigen Blute
Am Ende geworden papierener Hohn.
Natur!