Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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Das ändert sich nun eben am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Modernisierung hat hier ein Tempo erreicht, das alles Wissen und Können so schnell veralten läßt, daß der Einzelne dabei nicht mehr mithalten kann, daß das, was er sich im Laufe seines Lebens an Kenntnissen und Fähigkeiten erworben hat, irgendwann nicht mehr zu gebrauchen ist, daß er seine Lebenserfahrung überlebt. Auch hat die solchermaßen in permanenter Runderneuerung begriffene Welt kaum noch Verwendung für eine gereifte Urteilskraft; weit lieber ist ihr eine „Schwarmintelligenz“, bei der die Urteilskraft durch „Networking“ ersetzt ist. Und so wird hier aus dem jugendlichen Mangel an Erfahrung, an Wissen, Können und Urteilskraft die Tugend der Offenheit für das Neue. Die moderne Welt braucht den Einzelnen als unbeschriebenes Blatt, braucht ihn als einen Menschen, der noch nicht festgelegt ist, der weder durch eingeschliffene Gewohnheiten noch durch gefestigte Überzeugungen daran gehindert wird, bei allem mitzumachen, was gerade an Novitäten aufs Tapet kommt. Sie braucht Flexibilität und Mobilität, Vitalität und Dynamik, und die finden sich am ehesten bei der Jugend.
Auch wenn die Verfechter einer neuen Kunst mit dem Begriff der Jugend letztlich in die gleiche Richtung zielen wie mit dem der Modernität, verleiht er ihrem Programm doch einen anderen Akzent. Das Wort „modern“ ist, wie wir gehört haben, ein Kunstwort der lateinischen Gelehrtensprache, eines, das sich zunächst in den romanischen Sprachen eingebürgert hat, und von ihnen aus dann auch in der deutschen; das Wort „jung“ hingegen ist ein urdeutsches Wort, ist germanischen Ursprungs. Auch bezeichnet „jung“ in seiner ursprünglichen Bedeutung etwas Natürliches, eine Phase in der Entwicklung der Lebewesen, die sie von Natur aus durchlaufen; „modern“ hingegen ist nicht nur ein Kunstwort, sondern meint auch etwas Künstliches, zielt es doch auf den neuesten Stand in der Entwicklung dessen, was die menschliche Gesellschaft an „zivilisatorischen Realitäten“ aus sich hervorbringt.
Hinzu kommt, daß man seinerzeit weithin der Überzeugung ist, die Deutschen hätten eine besondere Neigung zur Natur und einen besonderen Sinn für alles Natürliche, und das sei ein Zug, der sie gegenüber anderen Nationen auszeichne, der sie insbesondere von ihren unmittelbaren Nachbarn, den Franzosen, unterscheide, die sich eher über ihre Teilhabe an der künstlichen Welt der Zivilisation definieren würden – ein zentrales Bestandstück des nationalromantischen Denkens, das sich im 19. Jahrhundert in den Köpfen festgesetzt und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein seinen Platz im geistigen Hausrat der Deutschen behauptet hat.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß es seinerzeit durchaus einen Unterschied macht, ob eine moderne oder eine junge Kunst gefordert wird. Wer den Aufbruch in ein neues Zeitalter der Kunst als Aufstand gegen eine überbildete, überkünstelte Kultur und Rückkehr zur Natur verstanden wissen will und wer überdies ein solches Verständnis des Neubeginns als eine genuin deutsche Zutat zum Geschäft der Modernisierung begreift, der wird dem Begriff der Jugend den Vorzug vor dem der Modernität geben. Dazu wird er um so mehr geneigt sein, wenn er sich dessen bewußt ist, daß nicht nur das Wort „modern“, sondern auch die Sache, die es bezeichnet, aus dem Ausland nach Deutschland gelangt ist, daß nämlich die beiden Bewegungen, in denen die moderne Kunst und Literatur Gestalt annimmt, der Naturalismus und der Symbolismus, von Frankreich ausgegangen sind und insofern einer Übersetzung ins Deutsche, einer Transformation in den Kontext der deutschen Kultur bedürfen. Der Siegeszug des Begriffs Jugendstil zeigt an, daß das Ringen um eine neue Kunst und Literatur in der Tat bald schon als ein ureigenstes Anliegen der Deutschen begriffen worden ist.
Das Neben- und Gegeneinander der beiden Schlag- und Machtwörter „modern“ und „jung“ verweist auf eines der zentralen Probleme, an denen sich die Modernen in ihren Programmschriften abarbeiten, auf die Spannung zwischen der Forderung nach Modernität und der nach Natürlichkeit. Die Welt ist modern geworden, und auch die Kunst soll nun modern werden; das heißt: sie soll sich in einer Welt einrichten, die sich mehr und mehr von der Natur entfernt und den Kunstprodukten des menschlichen Verstandes, den Konstrukten von Wissenschaft, Technik und Industrie überantwortet hat. Zugleich soll sie aber auch dem Verlangen nach Natürlichkeit zu neuerlicher Geltung verhelfen. Gerade als ein „Mädel“, das „vom Scheitel bis zum Fuße modern“ ist, fordert Bierbaums Muse von der Kunst „Natur! Natur!“ – wie paßt das zusammen?
Das Problem ist alles andere als neu; es begleitet Kunst und Literatur spätestens seit dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung. Denn schon die Aufklärung ist ebensowohl für Fortschritt wie für Natürlichkeit eingetreten. Es war sie, die dem Prozeß der Modernisierung die entscheidenden Impulse gab, und zugleich sorgte sie dafür, daß der Ruf „Natur! Natur!“ in allen Bereichen des kulturellen Lebens eine Schlüsselstellung erlangte. Und das war für sie durchaus kein Widerspruch – im Gegenteil: nur beides zugleich machte Sinn für sie. Denn unter Fortschritt verstand sie wesentlich den Versuch, das, was der zivilisatorische Prozeß bis dato an Fehlentwicklungen gezeitigt hatte, was er an ungerechten Verhältnissen und überkünstelten, vertrackten Lebensformen, was er an Entfremdung über die Menschen gebracht hatte, im Rückgang auf die Natur zu korrigieren.
Dabei wies sie Kunst und Literatur eine entscheidende Rolle zu; als Mimesis, „Nachahmung der Natur“ sollten sie die Menschen erneut mit den natürlichen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens und mit ihrer eigenen Natur bekannt machen, mit dem, was am Menschen selbst Natur ist. Dem ist die Literatur dann in der Tat weithin gefolgt, nicht nur zu Zeiten der Aufklärung, sondern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, bis zu Klassik und Romantik und bis zu deren epigonalen Nachfolgern. So kam es, daß der „Busen der Natur“ für hundertfünfzig Jahre zu einem bevorzugten Aufenthaltsort der Literatur wurde.
Es ist also nichts Neues, wenn sich die Autoren, die um 1890 die Literatur der Moderne auf den Weg bringen, zugleich zur modernen Welt bekennen und diese mit dem Ruf nach Natur konfrontieren. Neu ist allerdings, daß sie dieser Ruf nicht mehr zu den „grünen Stellen“ (F. Th. Vischer)25 auf der Landkarte der Moderne, in die Rückzugsgebiete der „freien Natur“ führt, daß sie das, was sie Natur nennen, inmitten der „zivilisatorischen Realitäten“ selbst, mitten im „Dickicht der Städte“ aufspüren wollen. Wenn Bierbaums Muse von der Poesie „Natur! Natur!“ fordert, dann meint sie damit, daß sie sich in die „Düsternisse sozialer Not“ vorwagen, also die Brennpunkte des sozialen Wandels aufsuchen soll. Wie kann sie hoffen, daß die Kunst gerade hier wieder in Fühlung mit der Natur kommen würde?
Die Frage stellt sich vor allem gegenüber den Modernen, die sich der Bewegung des Naturalismus anschließen. Denn gerade sie haben sich mit besonderer Energie und Konsequenz an die Darstellung von „zivilisatorischen Realitäten“ gemacht. Da bekennt man sich also zu einem „Naturalismus“, schreibt man sich die Natur auf die Fahnen, und ist doch ständig in den „großen Städten“ und ihrem „Volksgewühl“ unterwegs, bewegt sich
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Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. 3 Teile. Reutlingen Stuttgart 1846–1857. Teil 3, S. 1305.